Auffahrunfall: Ist wirklich immer der Auffahrende schuld?
16.07.2024, Redaktion Anwalt-Suchservice
© - freepik Es gibt tatsächlich auch Fälle, in denen der Auffahrende nicht schuld ist. Kommt es zum Gerichtsverfahren, wird die Haftung oft zwischen beiden Seiten aufgeteilt. Besonders kompliziert wird die Schuldfrage bei Auffahrunfällen beim Spurwechsel, bei Vollbremsungen des vorderen Autos und natürlich bei Kettenauffahrunfällen. Die Gerichte haben jedoch für alle diese Fälle Lösungen entwickelt.
Vor dem Landgericht Hannover ging es um einen Auffahrunfall, dessen eigentliche Ursache ein Streit zwischen einem Taxifahrer und dessen Fahrgast über die richtige Fahrtroute war. Zwischen beiden gab es auch sprachliche Verständigungsschwierigkeiten (der Fahrgast war Brite). Am Ende vollführte der erboste Taxifahrer mitten auf der Autobahn eine Vollbremsung und blieb zwei Minuten lang stehen. Wenig überraschend fuhr ein LKW auf das Taxi auf. Der Fahrgast erlitt schwere Verletzungen.
Die Haftpflichtversicherung des Taxis bezahlte zunächst eine sechsstellige Summe, versuchte aber anschließend, den LKW-Fahrer bzw. dessen Versicherung in Regress zu nehmen. Dieser war ihrer Ansicht nach nämlich zu 40 Prozent mitschuldig am Auffahrunfall. Er sei 83 km/h schnell gefahren, statt der erlaubten 80 km/h und habe zu spät gebremst. 40 Prozent entsprachen in dem Fall über 160.000 Euro.
Die altbekannte Faustregel "Wenn's hinten knallt, gibt's vorne Geld" beruht eigentlich auf dem sogenannten "Beweis des ersten Anscheins". Dieser spricht den Gerichten zufolge bei einem Auffahrunfall meist dafür, dass der Auffahrende die Schuld trägt. Schließlich kommt es immer wieder zu Auffahrunfällen, weil der Auffahrende zu schnell fährt und/oder den nötigen Sicherheitsabstand nicht einhält. Allerdings wissen auch die Gerichte, dass dies nicht immer die Unfallursache sein muss und dass auch eine Vollbremsung oder ein unerwarteter Spurwechsel des vorderen Fahrzeugs zu einem Auffahrunfall führen können. Deshalb kann man den Anscheinsbeweis vor Gericht auch entkräften, indem man beweist, dass dieses Mal eben kein typischer Geschehensablauf stattgefunden hat. Letzten Endes trägt die Schuld am Unfall also nicht automatisch der Auffahrende, sondern derjenige, dessen schuldhafte Verletzung der Verkehrsregeln den Unfall verursacht hat.
Das Landgericht Hannover wies die Regressforderung der Haftpflichtversicherung ab. Das Gericht entschied, dass die Versicherung des Taxis für die Unfallfolgen allein aufkommen müsse, weil der Taxifahrer die alleinige Schuld am Auffahrunfall hatte. Die Geschwindigkeitsübertretung des LKW-Fahrers sei nur geringfügig gewesen und seine späte Reaktion auf das auf der Autobahn stehende Taxi ändere nichts an der ganz überwiegenden Schuld des Taxifahrers am Unfall. Dieser habe durch das Anhalten auf der rechten Fahrspur der Autobahn äußerst grob seine Pflichten verletzt. Damit habe er den Unfall und den Schaden verursacht. Hinzu komme, dass das Anhalten aus einem nichtigen Grund erfolgt sei, nämlich nur wegen eines Streits mit dem Fahrgast. Für den Taxifahrer sei der Unfall leicht zu vermeiden gewesen: Er hätte einfach nur auf dem vorhandenen Pannenstreifen anhalten müssen (Urteil vom 15.2.2016, Az. 1 O 132/15).
Die Gerichte wenden aber auch in anderen Fällen die bekannte Faustregel nicht an. So war es auch im Fall einer Autofahrerin, die auf der Linksabbiegespur in einer Ampelschlange auf das Auto vor ihr aufgefahren war. Dieses war zunächst losgefahren, bremste dann aber plötzlich ab. Laut Gericht war ein geringer Sicherheitsabstand der Auffahrenden in einer Ampelschlange zu entschuldigen – immerhin müssten im Stadtverkehr die Grünphasen genutzt werden. Das Gericht betrachtete den bremsenden Fahrer im ersten Auto als allein schuldig (Amtsgericht München, 27.7.2001, Az. 345 C 10019/01).
Auch bei Auffahrunfällen auf der Autobahn machen die Gerichte oft eine Ausnahme von der Faustregel, dass der Auffahrende immer die Schuld am Unfall hat. Dies gilt insbesondere, wenn es vor dem Unfall einen Spurwechsel gegeben hat. So hat das Oberlandesgericht München entschieden, dass bei unklarer Beweislage zum Unfallgeschehen nicht einfach von der Schuld des Auffahrenden ausgegangen werden darf. Es müsse stattdessen eine genaue Beweisaufnahme stattfinden, damit der Schaden gegebenenfalls anteilig aufgeteilt werden könne (OLG München, Urteil vom 4.9.2009, Az. 10 U 3291/09).
Andere Gerichte sehen dies strenger. Nach ihrer Meinung ist der Anscheinsbeweis nicht erschüttert, nur weil vor dem Auffahrunfall ein Spurwechsel unter unklaren Umständen stattgefunden hat. Es müsse zusätzlich eindeutig feststehen, dass der Spurwechsel in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall erfolgt sei (OLG Saarbrücken, Urteil vom 19.5.2009, Az. 4 U 347/08). Das Oberlandesgericht Zweibrücken verlangt vom Auffahrenden sogar einen Beweis, dass der Spurwechsel des vorderen Fahrzeuges sich in einem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall ereignet hat (Urteil vom 30.07.2008, Az. 1 U 19/08). Im entsprechenden Fall war eine VW-Fahrerin auf einen Porsche aufgefahren. Dieser hatte sich auf der Autobahn aufgrund einer Baustelle vor ihr eingefädelt. Der vom Gericht geforderte Beweis gelang nicht. Die Frau musste 75 Prozent des Schadens tragen.
In München waren ein PKW und ein Reisebus kollidiert. Der PKW war auf der linken Spur gefahren und dann wegen einer Fahrbahnverengung auf die rechte Spur gewechselt. Durch diesen Spurwechsel geriet er vor den Bus, der ihm auffuhr. Der Halter des PKW verlangte Schadensersatz von der Versicherung des Reisebusses. Das Amtsgericht München wies die Klage ab: Bei einem Auffahrunfall spreche zwar der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden. Dies werde jedoch erschüttert, wenn der Auffahrende einen atypischen Verlauf darlegen und beweisen könne. Dafür müsse er nachweisen, dass ein Fahrzeug vorausgefahren sei, welches erst unmittelbar vor dem Unfall die Fahrspur gewechselt habe, sodass für das dahinter fahrende Auto ein Ausweichen unmöglich oder erheblich erschwert gewesen sei.
Jeder Spurwechsel erfordere nach § 7 Abs. 5 StVO die Einhaltung äußerster Sorgfalt, damit eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen werden könne. Wenn es zu einer Kollision zweier Fahrzeuge in unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Spurwechsel des Vorausfahrenden komme, spreche der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Vorausfahrende den Unfall verursacht und verschuldet habe. Daher hafte dieser bei einem sorgfaltswidrigen Fahrspurwechsel wegen der hier zu beachtenden größtmöglichen Sorgfalt in der Regel allein für den Unfallschaden (Amtsgericht München, Az. 331 C 28375/12).
Ein Auffahrunfall kann natürlich auch passieren, weil der "Vordermann" aus irgendeinem Grund eine Vollbremsung hinlegt. Mit einem solchen Fall beschäftigte sich das Amtsgericht Wuppertal: Ein Autofahrer hatte an einer innerstädtischen Kreuzung links abbiegen wollen und zu spät gemerkt, dass er dort gar nicht abbiegen durfte. Er vollführte eine Vollbremsung. Daher fuhr das Auto hinter ihm auf sein Fahrzeug auf. Der hintere Fahrer hatte sich gerade in diesem Moment auf einen Spurwechsel nach rechts vorbereitet und sich mit einem "Schulterblick" nach rechts versichert, ob die rechte Spur frei war. Das Gericht entschied, dass der Fahrer des hinteren Autos mit einem Anteil von ¾ haften müsse, weil er durch seine Unaufmerksamkeit und sein überhöhtes Tempo den Unfall überwiegend verschuldet habe. Der vordere Fahrer müsse ¼ der Haftung tragen, da er regelwidrig mitten im fließenden Verkehr abgebremst habe (Urteil vom 27.4.2010, Az. 33 C 25/09).
Fahren drei Fahrzeuge aufeinander auf, ist die Frage nach der Schuld und infolge der Haftungsverteilung besonders schwierig. Einen solchen Fall verhandelte das Landgericht Hanau. Ein Autofahrer hatte auf einer Autobahn den Sicherheitsabstand nicht eingehalten und war auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgefahren. Ein dritter PKW fuhr von hinten auf. Anschließend prozessierten die Fahrer der beiden hinteren Fahrzeuge um den Schaden. Der Fahrer des mittleren PKW konnte nicht beweisen, dass ihm ein rechtzeitiges Abbremsen nicht mehr möglich gewesen war. Daher musste er für den zweiten Auffahrunfall 25 Prozent des Schadens bezahlen (Urteil vom 16.12.2005, Az. 2 S 236/05).
Das OLG Hamm beschäftigte sich mit einem Auffahrunfall mit vier beteilgten Kfz. Der Halter des vorletzten Fahrzeugs in der Reihe hatte die Fahrerin verklagt, die als letzte aufgefahren war. Es konnte nicht mehr geklärt werden, ob das Auto des Klägers selbst auf das Fahrzeug davor aufgefahren oder durch das Fahrzeug der Beklagten geschoben worden war. Nach dem Gericht kann der Anscheinsbeweis, nach dem der Auffahrende schuld ist, bei Ketten-Auffahrunfällen generell nicht angewendet werden. Hier handle es sich immer um einen atypischen Geschehensablauf. Das Gericht teilte den Schaden zwischen den beiden Prozessparteien hälftig auf (Az. 6 U 101/13).
Die Faustregel "wer auffährt, ist schuld" wird häufig nicht angewendet, wenn es zu Auffahrunfällen kommt durch einen Spurwechsel, beim Auffahren auf die Autobahn, durch eine Vollbremsung des vorderen Fahrzeuges oder bei Ketten-Auffahrunfällen. Die Gerichte schauen sich aber jeden Einzelfall genau an. Nach einem Unfall kann Ihnen ein auf das Verkehrsrecht spezialisierter Rechtsanwalt zu Ihrem Recht verhelfen.
Das Wichtigste in Kürze
1. Grundregel: Die Faustregel "Wenn's hinten knallt, gibt's vorne Geld" leitet sich bei Auffahrunfällen aus dem sogenannten "Beweis des ersten Anscheins", nämlich, dass der Hinterherfahrende nicht aufmerksam genug oder zu schnell war, ab.
2. Ausnahmen: Der Auffahrende kann seine Alleinschuld am Auffahrunfall entkräften, indem er beweist, dass kein typischer Geschehensablauf stattgefunden hat, z.B. bei einer Vollbremsungen oder einem abrupten Spurwechsel des vorausfahrenden Kfz.
3. Ketten-Auffahrunfälle: Sind mehrere Fahrzeuge an einem Auffahrunfall beteiligt, ist die Frage nach der Schuld und infolge die Haftungsverteilung besonders kompliziert.
1. Grundregel: Die Faustregel "Wenn's hinten knallt, gibt's vorne Geld" leitet sich bei Auffahrunfällen aus dem sogenannten "Beweis des ersten Anscheins", nämlich, dass der Hinterherfahrende nicht aufmerksam genug oder zu schnell war, ab.
2. Ausnahmen: Der Auffahrende kann seine Alleinschuld am Auffahrunfall entkräften, indem er beweist, dass kein typischer Geschehensablauf stattgefunden hat, z.B. bei einer Vollbremsungen oder einem abrupten Spurwechsel des vorausfahrenden Kfz.
3. Ketten-Auffahrunfälle: Sind mehrere Fahrzeuge an einem Auffahrunfall beteiligt, ist die Frage nach der Schuld und infolge die Haftungsverteilung besonders kompliziert.
Dieser Rechtstipp behandelt folgende Themen:
LKW fährt auf stehendes Taxi: Wer hat Schuld? Warum ist meist der Auffahrende am Unfall schuld? Urteil: Taxifahrer trägt Alleinschuld am Unfall Auffahrunfall in der Ampelschlange: Wer ist schuld? Auffahrunfall nach Spurwechsel auf der Autobahn: Wer trägt die Schuld? Auffahrunfall nach Spurwechsel im Stadtverkehr: Wer hat Schuld? Auffahrunfall nach Vollbremsung: Wer hat Schuld? Wer trägt bei Ketten-Auffahrunfällen die Schuld? Praxistipp zur Schuldfrage beim Auffahrunfall LKW fährt auf stehendes Taxi: Wer hat Schuld?
Vor dem Landgericht Hannover ging es um einen Auffahrunfall, dessen eigentliche Ursache ein Streit zwischen einem Taxifahrer und dessen Fahrgast über die richtige Fahrtroute war. Zwischen beiden gab es auch sprachliche Verständigungsschwierigkeiten (der Fahrgast war Brite). Am Ende vollführte der erboste Taxifahrer mitten auf der Autobahn eine Vollbremsung und blieb zwei Minuten lang stehen. Wenig überraschend fuhr ein LKW auf das Taxi auf. Der Fahrgast erlitt schwere Verletzungen.
Die Haftpflichtversicherung des Taxis bezahlte zunächst eine sechsstellige Summe, versuchte aber anschließend, den LKW-Fahrer bzw. dessen Versicherung in Regress zu nehmen. Dieser war ihrer Ansicht nach nämlich zu 40 Prozent mitschuldig am Auffahrunfall. Er sei 83 km/h schnell gefahren, statt der erlaubten 80 km/h und habe zu spät gebremst. 40 Prozent entsprachen in dem Fall über 160.000 Euro.
Warum ist meist der Auffahrende am Unfall schuld?
Die altbekannte Faustregel "Wenn's hinten knallt, gibt's vorne Geld" beruht eigentlich auf dem sogenannten "Beweis des ersten Anscheins". Dieser spricht den Gerichten zufolge bei einem Auffahrunfall meist dafür, dass der Auffahrende die Schuld trägt. Schließlich kommt es immer wieder zu Auffahrunfällen, weil der Auffahrende zu schnell fährt und/oder den nötigen Sicherheitsabstand nicht einhält. Allerdings wissen auch die Gerichte, dass dies nicht immer die Unfallursache sein muss und dass auch eine Vollbremsung oder ein unerwarteter Spurwechsel des vorderen Fahrzeugs zu einem Auffahrunfall führen können. Deshalb kann man den Anscheinsbeweis vor Gericht auch entkräften, indem man beweist, dass dieses Mal eben kein typischer Geschehensablauf stattgefunden hat. Letzten Endes trägt die Schuld am Unfall also nicht automatisch der Auffahrende, sondern derjenige, dessen schuldhafte Verletzung der Verkehrsregeln den Unfall verursacht hat.
Urteil: Taxifahrer trägt Alleinschuld am Unfall
Das Landgericht Hannover wies die Regressforderung der Haftpflichtversicherung ab. Das Gericht entschied, dass die Versicherung des Taxis für die Unfallfolgen allein aufkommen müsse, weil der Taxifahrer die alleinige Schuld am Auffahrunfall hatte. Die Geschwindigkeitsübertretung des LKW-Fahrers sei nur geringfügig gewesen und seine späte Reaktion auf das auf der Autobahn stehende Taxi ändere nichts an der ganz überwiegenden Schuld des Taxifahrers am Unfall. Dieser habe durch das Anhalten auf der rechten Fahrspur der Autobahn äußerst grob seine Pflichten verletzt. Damit habe er den Unfall und den Schaden verursacht. Hinzu komme, dass das Anhalten aus einem nichtigen Grund erfolgt sei, nämlich nur wegen eines Streits mit dem Fahrgast. Für den Taxifahrer sei der Unfall leicht zu vermeiden gewesen: Er hätte einfach nur auf dem vorhandenen Pannenstreifen anhalten müssen (Urteil vom 15.2.2016, Az. 1 O 132/15).
Auffahrunfall in der Ampelschlange: Wer ist schuld?
Die Gerichte wenden aber auch in anderen Fällen die bekannte Faustregel nicht an. So war es auch im Fall einer Autofahrerin, die auf der Linksabbiegespur in einer Ampelschlange auf das Auto vor ihr aufgefahren war. Dieses war zunächst losgefahren, bremste dann aber plötzlich ab. Laut Gericht war ein geringer Sicherheitsabstand der Auffahrenden in einer Ampelschlange zu entschuldigen – immerhin müssten im Stadtverkehr die Grünphasen genutzt werden. Das Gericht betrachtete den bremsenden Fahrer im ersten Auto als allein schuldig (Amtsgericht München, 27.7.2001, Az. 345 C 10019/01).
Auffahrunfall nach Spurwechsel auf der Autobahn: Wer trägt die Schuld?
Auch bei Auffahrunfällen auf der Autobahn machen die Gerichte oft eine Ausnahme von der Faustregel, dass der Auffahrende immer die Schuld am Unfall hat. Dies gilt insbesondere, wenn es vor dem Unfall einen Spurwechsel gegeben hat. So hat das Oberlandesgericht München entschieden, dass bei unklarer Beweislage zum Unfallgeschehen nicht einfach von der Schuld des Auffahrenden ausgegangen werden darf. Es müsse stattdessen eine genaue Beweisaufnahme stattfinden, damit der Schaden gegebenenfalls anteilig aufgeteilt werden könne (OLG München, Urteil vom 4.9.2009, Az. 10 U 3291/09).
Andere Gerichte sehen dies strenger. Nach ihrer Meinung ist der Anscheinsbeweis nicht erschüttert, nur weil vor dem Auffahrunfall ein Spurwechsel unter unklaren Umständen stattgefunden hat. Es müsse zusätzlich eindeutig feststehen, dass der Spurwechsel in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall erfolgt sei (OLG Saarbrücken, Urteil vom 19.5.2009, Az. 4 U 347/08). Das Oberlandesgericht Zweibrücken verlangt vom Auffahrenden sogar einen Beweis, dass der Spurwechsel des vorderen Fahrzeuges sich in einem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall ereignet hat (Urteil vom 30.07.2008, Az. 1 U 19/08). Im entsprechenden Fall war eine VW-Fahrerin auf einen Porsche aufgefahren. Dieser hatte sich auf der Autobahn aufgrund einer Baustelle vor ihr eingefädelt. Der vom Gericht geforderte Beweis gelang nicht. Die Frau musste 75 Prozent des Schadens tragen.
Auffahrunfall nach Spurwechsel im Stadtverkehr: Wer hat Schuld?
In München waren ein PKW und ein Reisebus kollidiert. Der PKW war auf der linken Spur gefahren und dann wegen einer Fahrbahnverengung auf die rechte Spur gewechselt. Durch diesen Spurwechsel geriet er vor den Bus, der ihm auffuhr. Der Halter des PKW verlangte Schadensersatz von der Versicherung des Reisebusses. Das Amtsgericht München wies die Klage ab: Bei einem Auffahrunfall spreche zwar der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden. Dies werde jedoch erschüttert, wenn der Auffahrende einen atypischen Verlauf darlegen und beweisen könne. Dafür müsse er nachweisen, dass ein Fahrzeug vorausgefahren sei, welches erst unmittelbar vor dem Unfall die Fahrspur gewechselt habe, sodass für das dahinter fahrende Auto ein Ausweichen unmöglich oder erheblich erschwert gewesen sei.
Jeder Spurwechsel erfordere nach § 7 Abs. 5 StVO die Einhaltung äußerster Sorgfalt, damit eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen werden könne. Wenn es zu einer Kollision zweier Fahrzeuge in unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Spurwechsel des Vorausfahrenden komme, spreche der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Vorausfahrende den Unfall verursacht und verschuldet habe. Daher hafte dieser bei einem sorgfaltswidrigen Fahrspurwechsel wegen der hier zu beachtenden größtmöglichen Sorgfalt in der Regel allein für den Unfallschaden (Amtsgericht München, Az. 331 C 28375/12).
Auffahrunfall nach Vollbremsung: Wer hat Schuld?
Ein Auffahrunfall kann natürlich auch passieren, weil der "Vordermann" aus irgendeinem Grund eine Vollbremsung hinlegt. Mit einem solchen Fall beschäftigte sich das Amtsgericht Wuppertal: Ein Autofahrer hatte an einer innerstädtischen Kreuzung links abbiegen wollen und zu spät gemerkt, dass er dort gar nicht abbiegen durfte. Er vollführte eine Vollbremsung. Daher fuhr das Auto hinter ihm auf sein Fahrzeug auf. Der hintere Fahrer hatte sich gerade in diesem Moment auf einen Spurwechsel nach rechts vorbereitet und sich mit einem "Schulterblick" nach rechts versichert, ob die rechte Spur frei war. Das Gericht entschied, dass der Fahrer des hinteren Autos mit einem Anteil von ¾ haften müsse, weil er durch seine Unaufmerksamkeit und sein überhöhtes Tempo den Unfall überwiegend verschuldet habe. Der vordere Fahrer müsse ¼ der Haftung tragen, da er regelwidrig mitten im fließenden Verkehr abgebremst habe (Urteil vom 27.4.2010, Az. 33 C 25/09).
Wer trägt bei Ketten-Auffahrunfällen die Schuld?
Fahren drei Fahrzeuge aufeinander auf, ist die Frage nach der Schuld und infolge der Haftungsverteilung besonders schwierig. Einen solchen Fall verhandelte das Landgericht Hanau. Ein Autofahrer hatte auf einer Autobahn den Sicherheitsabstand nicht eingehalten und war auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgefahren. Ein dritter PKW fuhr von hinten auf. Anschließend prozessierten die Fahrer der beiden hinteren Fahrzeuge um den Schaden. Der Fahrer des mittleren PKW konnte nicht beweisen, dass ihm ein rechtzeitiges Abbremsen nicht mehr möglich gewesen war. Daher musste er für den zweiten Auffahrunfall 25 Prozent des Schadens bezahlen (Urteil vom 16.12.2005, Az. 2 S 236/05).
Das OLG Hamm beschäftigte sich mit einem Auffahrunfall mit vier beteilgten Kfz. Der Halter des vorletzten Fahrzeugs in der Reihe hatte die Fahrerin verklagt, die als letzte aufgefahren war. Es konnte nicht mehr geklärt werden, ob das Auto des Klägers selbst auf das Fahrzeug davor aufgefahren oder durch das Fahrzeug der Beklagten geschoben worden war. Nach dem Gericht kann der Anscheinsbeweis, nach dem der Auffahrende schuld ist, bei Ketten-Auffahrunfällen generell nicht angewendet werden. Hier handle es sich immer um einen atypischen Geschehensablauf. Das Gericht teilte den Schaden zwischen den beiden Prozessparteien hälftig auf (Az. 6 U 101/13).
Praxistipp zur Schuldfrage beim Auffahrunfall
Die Faustregel "wer auffährt, ist schuld" wird häufig nicht angewendet, wenn es zu Auffahrunfällen kommt durch einen Spurwechsel, beim Auffahren auf die Autobahn, durch eine Vollbremsung des vorderen Fahrzeuges oder bei Ketten-Auffahrunfällen. Die Gerichte schauen sich aber jeden Einzelfall genau an. Nach einem Unfall kann Ihnen ein auf das Verkehrsrecht spezialisierter Rechtsanwalt zu Ihrem Recht verhelfen.
(Bu)