Widerrufsjoker: Was müssen Kreditnehmer zum Widerruf eines Darlehens wissen?

09.07.2024, Redaktion Anwalt-Suchservice
Widerrufsjoker,Widerrufsbelehrung,Darlehen,Bank Bei manchen Darlehen kann der Widerrufsjoker noch wirken. © Rh - Anwalt-Suchservice
Das Wichtigste in Kürze

1. Widerrufsjoker: Der Begriff meint ein theoretisch "ewiges" Widerrufsrecht, das aufgrund fehlerhafter Widerrufsbelehrungen bei Abschluss von Darlehensverträgen möglich war.

2. Ende des Widerrufsjokers: Seit dem Jahr 2016 endet die Widerrufsfrist für Immobiliendarlehensverträge, die von Verbrauchern abgeschlossen wurden, spätestens ein Jahr und 14 Tage nach dem Vertragsschluss.

3. Ältere Fälle: Ein zeitlich unbegrenztes Widerrufsrecht bei fehlerhafter Widerrufsbelehrung gilt weiterhin für Immobiliendarlehensverträge, die zwischen dem 11. Juni 2010 und dem 20. März 2016 geschlossen worden sind.
Der Widerrufsjoker wurde häufig bereits für tot erklärt. Für bestimmte Verträge ist er aber noch durchaus lebendig. Er ermöglicht es Verbrauchern, sich auch noch nach langer Vertragslaufzeit aus einem Darlehensvertrag zu lösen. Dies kann zum Beispiel Sinn machen, wenn man zum Beispiel durch einen Widerruf des Kredits auch einen damit verbundenen Vertrag rückgängig machen möchte (Stichwort Autokauf / Dieselskandal), oder die Restschuld eines Darlehens ablösen will, ohne eine Vorfälligkeitsentschädigung zu zahlen. Auch die Umschuldung wegen eines besseren Zinssatzes kann interessant sein, abhängig von der Zinsentwicklung. Der Widerrufsjoker kann in Fällen greifen, in denen die Bank bei ihrer Widerrufsbelehrung einen Fehler gemacht hat. Mit solchen Fällen befasste sich 2020 und 2021 auch der Europäische Gerichtshof.

Was versteht man unter dem Widerrufsjoker?


Bei Verbraucherdarlehen gibt es ein Widerrufsrecht: Verbraucher können den Darlehensvertrag innerhalb von 14 Tagen widerrufen. Diese Widerrufsfrist beginnt jedoch gar nicht erst zu laufen, wenn der Kreditgeber bestimmte formale Fehler macht - etwa, den Verbraucher nicht korrekt über sein Widerrufsrecht aufklärt. Diese Aufklärungspflichten sind umfangreich und haben sich über die Jahre immer wieder geändert. Daher gibt es fast keine formal korrekte Widerrufsbelehrung. Das Ergebnis: Unter Umständen können Verbraucher noch Jahre später den Widerruf erklären und aus dem Vertrag aussteigen - wenn ihnen zum Beispiel die Zinsen zu hoch geworden sind.

Warum wurde der Widerrufsjoker zeitweise für tot erklärt?


Die Folge der oben dargestellten Situation war ein "ewiges Widerrufsrecht", das der Gesetzgeber eigentlich so gar nicht beabsichtigt hatte. Eigentlich hatte man nur dem Verbraucher die Möglichkeit geben wollen, es sich nach einem übereilt abgeschlossenen Vertrag noch mal ein paar Tage lang zu überlegen. Nicht beabsichtigt war, dass nun massenhaft Kunden auch noch nach Jahren aus den Verträgen ausstiegen, weil die Zinsen gesunken waren und es überall billiges Geld zu leihen gab. Diese Situation missfiel naturgemäß auch den Geldinstituten.

Daher wurde 2016 eine Vorschrift verabschiedet, die den Widerrufsjoker ausbremste: Seitdem endet die Widerrufsfrist für Immobilien-Verbraucherdarlehensverträge spätestens ein Jahr und 14 Tage nach dem Vertragsschluss - in jedem Fall. Diese Regelung gilt noch heute und galt nach einer Übergangsfrist auch rückwirkend für bestimmte Altfälle (§ 356b Abs. 2 S. 4 BGB).

Diese Vorschrift gilt jedoch nur für Immobilien-Darlehensverträge. Sie gilt nicht für andere Verbraucherdarlehen, wie zum Beispiel eine Auto-Finanzierung.

Welche Immobilien-Darlehensverträge kann man immer noch widerrufen?


Zum Darlehens-Widerruf hat es verschiedene Gesetzesänderungen gegeben. Daher kommt es darauf an, wann der Immobilien-Darlehensvertrag ursprünglich abgeschlossen wurde.

So gilt ein zeitlich unbegrenztes Widerrufsrecht bei fehlerhafter Widerrufsbelehrung weiterhin für Verträge, die zwischen dem 11. Juni 2010 und dem 20. März 2016 geschlossen worden sind.

Verträge, die seit dem 21. März 2016 abgeschlossen wurden, können auch bei Fehlern in der Widerrufsbelehrung allerhöchstens ein Jahr und 14 Tage lang widerrufen werden.

Was ist die Folge eines Widerrufs?


Wird das Darlehen widerrufen, muss der komplette Darlehensvertrag rückabgewickelt werden. Bei einem Immobiliendarlehen bekommt der Darlehensnehmer seine geleisteten Zahlungen inklusive Zinszahlungen zurück. Im Gegenzug muss er allerdings das Darlehen auf einen Schlag zurückzahlen. Um eine neue Finanzierung sollte man sich unbedingt VOR dem Widerruf kümmern.

Was hat der Europäische Gerichtshof 2020 zum Widerrufsjoker entschieden?


Im Fall vor dem Europäischen Gerichtshof ging es um einen deutschen Immobilien-Darlehensvertrag, der 2012 abgeschlossen und 2016 widerrufen worden war. Grundsätzlich war dieser Vertrag also zeitlich unbegrenzt widerrufbar. Der Gerichtshof hat in diesem Verfahren eine weit verbreitete Klausel in der Widerrufsbelehrung für fehlerhaft erklärt.

Diese lautet etwa so: "Die Frist beginnt nach Abschluss des Vertrages, aber erst, nachdem der Darlehensnehmer alle Pflichtangaben nach § 492 Absatz 2 BGB (z. B. Angabe zur Art des Darlehens, Angabe zum Nettodarlehensbetrag, Angabe zur Vertragslaufzeit) erhalten hat." § 492 wiederum verweist auf weitere Paragrafen aus dem Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB). Dort finden sich weitere Verweise.

Dies ist ein sogenannter Kaskadenverweis, bei dem der Verbraucher ganze Ketten von Paragrafen-Querverweisen quer durch mehrere Gesetzbücher hindurch zurückverfolgen müsste, um herauszufinden, was denn nun wirklich Sache ist. Kaum ein Laie wird aufgrund dieser Regelung erkennen können, welche Pflichtangaben die Bank ihm machen muss und wann seine Widerrufsfrist zu laufen beginnt. Der EuGH hielt diese Klausel für unzulässig. Damit könnte also ein Widerruf begründet werden (Urteil vom 26.3.2020, Az. C-66/19).

Was ist an dem Urteil problematisch?


Die umstrittene Klausel taucht allerdings auch in der Muster-Widerrufsbelehrung auf, die die Bundesregierung den Banken gerade für den Zeitraum Juni 2010 bis März 2016 vorgegeben hat. Banken, die lediglich die Muster-Belehrung verwendet haben, können sich auf den sogenannten Musterschutz berufen. Immerhin kann man ihnen schlecht vorwerfen, eine Klausel benutzt zu haben, die ihnen von Regierungsseite vorgegeben wurde.

Der Bundesgerichtshof ist hier daher anderer Ansicht als der Europäische Gerichtshof. Er hatte bereits 2016 entschieden, dass genau diese Formulierung unproblematisch sei und nicht zum Widerruf berechtige (Az. XI ZR 434/15). Fünf Tage nach dem Urteil des EuGH entschied der BGH erneut, dass der Verweis auf § 492 Abs. 2 BGB absolut deutlich und verständlich sei. Obendrein sei die vom EuGH vorausgesetzte Anwendbarkeit der EU-Verbraucherkreditrichtlinie auf Immobiliendarlehen zweifelhaft, weil hier rein nationale Vorschriften betroffen seien. Nach Ansicht des BGH ist also kein Widerruf möglich (Beschluss vom 31.3.2020, Az. XI ZR 581/18).

Welche Darlehen kann man trotzdem anfechten?


Es gibt viele Darlehensverträge, die nicht dem Regierungs-Muster entsprechen, sondern von den Banken selbst abgeändert wurden. Solche Änderungen können dazu führen, dass die Bank sich nicht mehr auf den Schutz der Muster-Widerrufserklärung berufen kann. Kommt also in einer solchen Widerrufsbelehrung eine unzulässige Klausel vor und handelt es sich nicht um einen Immobilienkredit, könnte ein Widerruf auch nach Jahren noch möglich sein.

Was hat der EuGH 2021 entschieden?


In mehreren Urteilen hat der Europäische Gerichtshof 2021 entschieden, dass Banken in Kreditverträgen mit Verbrauchern zwingend bestimmte weitere Angaben machen müssen. Dabei geht es zum Beispiel um die Verzugszinsen bei Vertragsschluss sowie den entsprechenden Anpassungsmechanismus und die Berechnungsmethode für die Vorfälligkeitsentschädigung. Auch bei Fehlen dieser Angaben ist laut EuGH ein Widerruf noch nach Jahren möglich (Urteile vom 9.9.2021, Az. C-33/20, C-155/20 und C-187/20).

Für wen lohnt es sich, den Widerrufsjoker zu ziehen?


Dies lohnt sich für Darlehensnehmer, die

- ihr Darlehen vorzeitig beenden möchten, ohne eine Vorfälligkeitsentschädigung zu zahlen,
- ihren langfristigen Kredit umschulden wollen, um bei einer anderen Bank einen günstigeren Zinssatz zu bekommen,
- die aus einem Forward-Darlehen ohne Entschädigungszahlung aussteigen möchten, weil ihnen auch hier die künftig zu zahlenden Zinsen zu hoch sind,
- die den Darlehensvertrag kündigen möchten, um einen damit verbundenen Kaufvertrag aufzulösen (z. B. Autokauf/Dieselskandal/Fahrzeugmängel).

Welche Risiken bestehen bei einem Darlehenswiderruf?


Wichtig: Ein Widerruf kann nicht mehr widerrufen werden. Ist er erfolgreich, muss man die gesamte Darlehenssumme innerhalb von 30 Tagen an die Bank zurückzahlen. Ist kein Geld da oder steht die Anschlussfinanzierung noch nicht fest, drohen Vollstreckungsmaßnahmen. Hinzu kommt eine Verschlechterung der Bonitätsbewertung, die eine neue Kreditaufnahme verhindern kann.

Nicht jede Bank vergibt Kredite an Kreditnehmer, die den vorherigen Kredit bei einer anderen Bank widerrufen haben.

Der "Widerrufsjoker" funktioniert nur in ganz bestimmten Fällen und ist kein einfacher Trick, um schnell an ein paar tausend Euro für den nächsten Urlaub zu kommen. Wenn es zu einem Prozess mit der Bank kommt, wird dieser teuer, denn es geht meist um einen hohen Streitwert. Es werden also erhebliche Anwalts- und Gerichtskosten anfallen.

Unbedingt vorher geklärt werden sollte, ob die Rechtsschutzversicherung für ein solches Verfahren zahlt. Dies ist nicht selbstverständlich und hängt von deren Vertragsbedingungen ab.

Was gilt für Autokredite bei fehlerhafter Widerrufsbelehrung?


Die gesetzliche Beschränkung des Widerrufsrechts auf ein Jahr und 14 Tage gilt nur für Immobiliendarlehen. Sie gilt nicht für Allgemeindarlehen an Verbraucher und damit auch nicht für Autokredite und Leasingverträge.

Auch bei diesen Verträgen besteht das Problem, dass der Europäische Gerichtshof und der Bundesgerichtshof unterschiedliche Ansichten darüber vertreten, ob bestimmte Klauseln in der Widerrufsbelehrung zulässig sind. Der BGH hält anders als der EuGH den sogenannten Kaskadenverweis auf § 492 BGB für erlaubt, da dieser auch in der Muster-Widerrufsbelehrung der Bundesregierung auftaucht.

Kommen jedoch in einer Widerrufsbelehrung unzulässige Klauseln vor, die sich die Bank selbst ausgedacht hat, bestehen Chancen auf einen erfolgreichen Widerruf.

Eine Grundvoraussetzung ist, dass der Kreditvertrag und der Autokaufvertrag rechtlich miteinander verbunden sind und nicht völlig unabhängig voneinander abgeschlossen wurden. Dies ist in der Regel erfüllt, wenn die Finanzierung über den Autohändler abgeschlossen wurde.

Ein Widerruf beendet nicht nur den Kreditvertrag, sondern macht auch den Autokauf rückgängig. Das Auto muss zurückgegeben werden und die Bank zahlt die Raten und die Anzahlung zurück. Dies kann sich insbesondere für Käufer von Fahrzeugen mit Abgasmanipulation und Schummelsoftware lohnen, bei denen ein hoher Wertverlust droht. Aber: In der Regel kann die Bank nach Gerichtsurteilen einen Betrag für den Wertverlust und als Nutzungsentschädigung des Fahrzeugs einbehalten. Die Rechtsprechung dazu ist nicht einheitlich.

Der Bundesgerichtshof steht eher auf der Seite der Unternehmen. So hat er Ende 2019 zwei Widerrufsbelehrungen für zulässig erklärt, sodass die Kunden nicht widerrufen konnten (Urteile vom 5.11.2019, Az. XI ZR 650/18 und XI ZR 11/19).

Wann ist ein Widerruf rechtsmissbräuchlich?


Gerichte können einen Widerruf durchaus als rechtsmissbräuchlich (und damit als unzulässig) ansehen, wenn er zum Beispiel nicht wegen unklarer Vertragsbedingungen, sondern nur aus finanziellen Interessen erfolgt.

Ein solches treuwidriges Verhalten sah der BGH zum Beispiel im Fall einer Frau, die nach 20 Jahren ihre Lebensversicherung widerrufen wollte, weil damals bei der Widerrufsbelehrung Fehler gemacht worden waren. Zwar bestätigte das Gericht, dass in diesem Fall grundsätzlich noch ein Widerrufsrecht bestünde. Dies beruhe auf einer Gesetzeslücke im Versicherungsvertragsgesetz. Aber: Die Frau habe von Anfang an den Eindruck erweckt, an dem Vertrag festhalten zu wollen. Sie habe die Lebensversicherung zur Absicherung eines Immobiliendarlehens abgeschlossen und alle Rechte daraus an die Bank abgetreten. Dies habe auch die Leistung im Todesfall umfasst. Die Bank habe darauf vertrauen dürfen, dass der Vertrag nicht widerrufen werde (Urteil vom 19.7.2023, Az. IV ZR 268/21).

Praxistipp zum Widerrufsjoker


Der Widerrufsjoker kann Kreditnehmern helfen, aus einem Darlehensvertrag herauszukommen. Allerdings muss jeder Fall sorgfältig geprüft werden. Ein Widerruf beinhaltet erhebliche Risiken. Der beste Ansprechpartner dafür ist ein im Kreditrecht erfahrener Rechtsanwalt, zum Beispiel ein Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht.

(Bu)


 Stephan Buch
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