Brustimplantate aus Industriesilikon: Haftet der TÜV?
02.06.2023, Redaktion Anwalt-Suchservice
© Bu - Anwalt-Suchservice Der französische Hersteller von Brustimplantaten Poly Implant Prothèse (PIP) füllte über einen langen Zeitraum statt hochwertigen medizinischen Silikons billiges Industriesilikon in Brustimplantate. Die Implantate waren dadurch weniger haltbar und extrem reißanfällig. Viele Frauen mussten sich wegen beschädigter Implantate operieren lassen, viele andere ließen vorsorglich die Implantate austauschen. In Deutschland gibt es etwa 5.000 Betroffene, weltweit dürften es wohl einige hunderttausend sein. Das Unternehmen PIP ging sehr schnell in die Insolvenz. Der Firmengründer landete für einige Jahre im Gefängnis.
Zum ersten Mal hat ein französiches Berufungsgericht im Februar 2021 entschieden, dass der TÜV Rheinland Schadensersatz zu zahlen hat. Vorausgegangen war dem Urteil des Berufungsgerichts Aix-en-Provence das gleichlautende Urteil des Handelsgerichts Toulon.
Dem Urteil zufolge wäre der TÜV Rheinland nach der europäischen Verordnung über Medizinprodukte dazu verpflichtet gewesen, die Herkunft des verwendeten Materials zu prüfen. Dies hätte eine Überprüfung der Lagerbücher des Herstellers PIP erfordert, bei der man dann erkannt hätte, das die Anzahl der hergestellten Brustimplantate in keinem Verhältnis zu dem wenigen Material stand, das von dem einzigen zugelassenen Lieferanten stammte. Anschließend hätten unangekündigte Kontrollen folgen müssen. Passiert war jedoch nichts davon.
Das Gericht wies die Klagen von 6.205 Frauen als unzulässig ab, da sie nicht nachweisen konnten, dass bei Ihnen das betroffene Implantat verwendet worden war. Bei 13.456 Klägerinnen konnte der Beweis erbracht werden, diese haben nun Anspruch auf Schadensersatz. Weitere Verfahren mit einer Vielzahl von Klägerinnen laufen noch. Der Opferverband PIPA World sieht das Urteil als positives Signal für Klägerinnen aus aller Welt.
Bei Arzneimitteln gibt es aufwändige Zulassungsverfahren. Bei sonstigen Medizinprodukten nicht. Hier reicht es aus, eine CE-Kennzeichnung zu erwerben. Dafür muss das Produkt ein sogenanntes Konformitätsbewertungsverfahren durchlaufen. Dabei wird geprüft, ob das Produkt mit europarechtlichen Vorschriften im Einklang ist. Durchgeführt wird dieses Verfahren von einer "benannten Stelle". Dies sind Institutionen, die zur Überprüfung solcher Produkte berechtigt sind, weil sie über die entsprechende Fachkenntnis verfügen (sollten). Welche der verschiedenen "benannten Stellen" bei einem bestimmten Produkt die Prüfung durchführt, ist Entscheidung des Herstellers.
Der TÜV Rheinland hat für den Hersteller PIP von 1997 bis 2010 die Aufgaben der "benannten Stelle" wahrgenommen und war damit für die Überprüfung der Brustimplantate verantwortlich. Die entsprechenden Bewertungen fielen positiv aus, die CE-Kennzeichnung wurde erteilt. Darauf verließen sich die Ärzte, die dieses Produkt ihren Patientinnen empfahlen.
Allerdings war dem TÜV nicht aufgefallen, dass die Implantate aus völlig ungeeignetem und gefährlichem Billigmaterial - nämlich einfachem Industriesilikon - hergestellt wurden. Das konnte auch gar nicht auffallen: Offenbar führte der TÜV betriebliche Kontrollen nur mit Ankündigung durch; eine Prüfung der Implantate fand nicht statt, Unterlagen des Herstellers wurden ungeprüft als wahr akzeptiert und mit einer bewussten Täuschung wurde schon gar nicht gerechnet. Festgestellt wurde die Verwendung von Industriesilikon erst 2010 durch eine französische Aufsichtsbehörde.
Der französische Kassationsgerichtshof hat in einem letztinstanzlichen Urteil die Verantwortung des TÜV Rheinland für die Verwendung ungeeigneter Brustimplantate bestätigt. Dem Urteil zufolge ist der TÜV Rheinland Frankreich seinen "Pflichten zur Kontrolle, Sorgfalt und Wachsamkeit" im Rahmen der Prüfung der Implantate nicht nachgekommen. Die fachliche Verantwortung habe nachweislich beim TÜV gelegen. Der Kassationsgerichtshof hob mehrere vorinstanzliche Urteile auf, die die Verantwortung des TÜV einschränkten oder nur auf Vorfälle in einem bestimmten Zeitraum eingrenzten. Diese Fälle müssen nun vor einem Berufungsgericht in Lyon neu verhandelt werden. Für zehntausende betroffene Frauen verbessern sich durch dieses Urteil nun die Chancen auf Schadensersatz. Auch verbessert es die Chancen darauf, dass künftig bei einer Zertifizierung von Medizinprodukten auch tatsächlich irgendeine Art von Prüfung stattfindet.
Nach dem Skandal rutschte PIP schnell in die Insolvenz. Eine Reihe von Geschädigten versuchten daraufhin, den TÜV finanziell in die Verantwortung zu nehmen, da dieser unzureichend seinen Prüfpflichten nachgekommen sei. Viele Klagen scheiterten daran, dass deutsche Gerichte bisher keine gesetzliche Pflicht für genauere Überprüfungen erkennen konnten.
In Frankreich war der TÜV Rheinland im Januar 2017 zur Zahlung von 60 Millionen Euro Schadensersatz an 20.000 Frauen verurteilt worden. Der TÜV legte dagegen Rechtsmittel ein.
Vor dem Europäischen Gerichtshof ging es dann um die Klage einer Deutschen aus der Pfalz. Diese hatte sich ihre Brustimplantate auf ärztlichen Rat hin durch eine neue Operation wieder entfernen lassen und verlangte 40.000 Euro Schmerzensgeld. Der deutsche Bundesgerichtshof legte dem Europäischen Gerichtshof mehrere Rechtsfragen aus diesem Verfahren zur Beantwortung vor. Dies ist üblich, wenn ein wichtiger Fall Berührung mit dem Europarecht hat. Hier ging es dabei um die europäische Medizinprodukterichtlinie 93/42/EWG.
Es ging zunächst darum, ob die Richtlinie so auszulegen sei, dass die Prüfstelle zum Schutz aller Patienten tätig werde und bei unzureichender Prüfung auch gegenüber den Patienten hafte. Dann fragte der BGH, ob die Regeln über die Überprüfung von Medizinprodukten ein Schutzgesetz im Sinne des deutschen § 823 Abs. 2 BGB seien. Diese Regelung ist Grundlage für Schadensersatzansprüche bei der Verletzung von Gesetzen, die anderer Leute Rechtsgüter schützen sollen.
Zuletzt ging es darum, wie eine Überprüfung auszusehen hat: Müssen Geschäftsunterlagen gesichtet werden, müssen unangekündigte Inspektionen stattfinden und muss dies alles nur mit oder auch ohne einen besonderen Anlass stattfinden?
Der Europäische Gerichtshof war der Ansicht, dass die Prüfstelle zum Schutz der Implantateempfänger tätig werde. Außerdem seien die Regeln über die Prüfung von Medizinprodukten als Schutzgesetz für fremde Rechtsgüter anzusehen. Grundsätzlich besteht damit die Möglichkeit einer Haftung für den TÜV. Deren Einzelheiten richten sich dann nicht nach der EU-Richtlinie, sondern nach dem nationalen Recht.
Aber: Der EuGH lehnte eine generelle Pflicht der Prüfstelle ab, Medizinprodukte tatsächlich zu prüfen, Geschäftsunterlagen einzusehen oder unangemeldete Inspektionen durchzuführen. Es soll ausreichen, solche Überprüfungen nur anlassbezogen durchzuführen – wenn also der Prüfstelle Hinweise zu Ohren gekommen sind, dass etwas nicht stimmt (EuGH, Urteil vom 16.2.2017, Az. C-219/15).
Ende Februar 2020 hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass eine Haftung des TÜV Rheinland gegenüber Patientinnen grundsätzlich möglich ist.
Geklagt hatte eine Krankenkasse, die 26 Frauen die Kosten für den Austausch der minderwertigen Implantate ersetzt hatte. Dieses Geld wollte sie nun zurückhaben. Die entsprechenden Ansprüche der Frauen hatte sich die Kasse abtreten lassen.
Der Bundesgerichtshof bestätigte zunächst das Urteil der Vorinstanz darin, dass eine vertragliche Haftung des TÜV ausscheide. Auch eine Haftung im Rahmen eines sogenannten "Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter" könne hier nicht angenommen werden. Der zwischen der PIP und dem TÜV Rheinland geschlossene Zertifizierungsvertrag diene nicht dem Schutz von Patientinnen. Das CE-Kennzeichen sei gerade kein Gütesiegel, dem Patientinnen ein besonderes Vertrauen entgegenbringen könnten, sondern lediglich eine Voraussetzung für den Vertrieb.
Andererseits sei jedoch eine deliktische Haftung möglich. Deliktische Haftung bedeutet: Wenn jemand einem anderen durch eine unerlaubte Handlung einen Schaden zufügt, muss er dafür haften. Eine Variante davon ist die Verletzung von Gesetzen, die dem Schutz anderer Personen dienen. Die gesetzliche Regelung findet sich in § 823 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB).
Aus Sicht des BGH sind die Regelungen zur Konformitätsprüfung im deutschen Medizinproduktegesetz sowie die Regelungen über die Rechte und Pflichten der Prüfstelle in der Verordnung über Medizinprodukte eben solche Gesetze, die dem Schutz anderer Personen dienen. Die Prüfungstätigkeit der "benannten Stelle" (hier des TÜV Rheinland) sei nicht nur eine Dienstleistung für den Auftraggeber, sondern diene gerade dem Schutz von Implantat-Empfängern.
Eine solche Haftung sei auch sinnvoll: Ohne sie sei der Sinn des gesamten Verfahrens der Konformitätsprüfung fraglich und dieses wertlos. Mit anderen Worten: Wenn man sich eine CE-Kennzeichnung für sein Medizinprodukt einfach kaufen kann und niemand für untaugliche Produkte haftet, kann man sich das Ganze auch sparen.
Das Verfahren wurde vom BGH an die Vorinstanz zurückverwiesen. Diese muss nun prüfen, ob der TÜV Rheinland seine Prüfpflichten verletzt hat und tatsächlich für Schäden haftet. Dabei wird es dann abermals zum Beispiel um die Frage gehen, ob eine Prüfung auch ohne konkreten Anlass und ohne Vorwarnung stattfinden muss (BGH, Urteil vom 27. Februar 2020, Az. VII ZR 151/18).
Klagen richteten sich übrigens auch gegen den Haftpflichtversicherer des Unternehmens PIP. Die französische Versicherung hatte Schadensersatz an französische Geschädigte ausbezahlt, sich aber auf den Standpunkt gestellt, für deutsche Geschädigte nicht zuständig zu sein. So stand es auch im Versicherungsvertrag mit PIP. Das Oberlandesgericht Hamm hatte dies zunächst bestätigt (Beschluss vom 19.6.2017, Az. 3 U 30/17).
Das OLG Frankfurt am Main legte 2018 dem Europäischen Gerichtshof die Frage vor, ob dies nicht vielleicht eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit sei. Wie sähe es denn mit dem Gleichheitsgrundsatz innerhalb der EU aus?
Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 11.6.2020 entschieden, dass die geografische Einschränkung des Versicherungsvertrages keine Diskriminierung ist (6.2.2020, Az. C-581/18).
Mit dem neuen BGH-Urteil ist eine Haftung des TÜV für Schäden durch minderwertige Brustimplantate bzw. auch für deren vorsorglichen Austausch grundsätzlich möglich. Der weitere Verfahrensverlauf wird zeigen, ob die Gerichte tatsächlich eine Pflichtverletzung bejahen. In den Urteilen aus Frankreich ist dies geschehen. Qualifizierte Beratung in solchen Fällen erteilt ein Fachanwalt für Medizinrecht.
Das Wichtigste in Kürze
1. Schadensersatz / Schmerzensgeld: Bei mangelhaften Brustimplantaten haben Patientinnen das Recht, Schadensersatz für zusätzliche medizinische Behandlungen und möglicherweise auch Schmerzensgeld zu fordern.
2. Austausch der Implantate: Patientinnen können den Austausch der fehlerhaften Implantate im Wege der Nacherfüllung verlangen.
3. Haftung Hersteller und TÜV: Also Anspruchsgegner kommen auch der Hersteller der Implantate und der TÜV in Betracht, wenn diese z.B. ihre Sorgfaltspflichten bei der Herstellung oder ihre Prüfpflichten verletzt haben.
1. Schadensersatz / Schmerzensgeld: Bei mangelhaften Brustimplantaten haben Patientinnen das Recht, Schadensersatz für zusätzliche medizinische Behandlungen und möglicherweise auch Schmerzensgeld zu fordern.
2. Austausch der Implantate: Patientinnen können den Austausch der fehlerhaften Implantate im Wege der Nacherfüllung verlangen.
3. Haftung Hersteller und TÜV: Also Anspruchsgegner kommen auch der Hersteller der Implantate und der TÜV in Betracht, wenn diese z.B. ihre Sorgfaltspflichten bei der Herstellung oder ihre Prüfpflichten verletzt haben.
Dieser Rechtstipp behandelt folgende Themen:
Klage in Frankreich gewonnen Was hat der TÜV damit zu tun? Update vom 2.6.2023: Oberstes französisches Gericht entscheidet gegen TÜV Welche gerichtlichen Klagen gab es? Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof Wie hat der EuGH entschieden? Wie hat der Bundesgerichtshof 2020 entschieden? Klagen gegen die Haftpflichtversicherung von PIP Praxistipp Klage in Frankreich gewonnen
Zum ersten Mal hat ein französiches Berufungsgericht im Februar 2021 entschieden, dass der TÜV Rheinland Schadensersatz zu zahlen hat. Vorausgegangen war dem Urteil des Berufungsgerichts Aix-en-Provence das gleichlautende Urteil des Handelsgerichts Toulon.
Dem Urteil zufolge wäre der TÜV Rheinland nach der europäischen Verordnung über Medizinprodukte dazu verpflichtet gewesen, die Herkunft des verwendeten Materials zu prüfen. Dies hätte eine Überprüfung der Lagerbücher des Herstellers PIP erfordert, bei der man dann erkannt hätte, das die Anzahl der hergestellten Brustimplantate in keinem Verhältnis zu dem wenigen Material stand, das von dem einzigen zugelassenen Lieferanten stammte. Anschließend hätten unangekündigte Kontrollen folgen müssen. Passiert war jedoch nichts davon.
Das Gericht wies die Klagen von 6.205 Frauen als unzulässig ab, da sie nicht nachweisen konnten, dass bei Ihnen das betroffene Implantat verwendet worden war. Bei 13.456 Klägerinnen konnte der Beweis erbracht werden, diese haben nun Anspruch auf Schadensersatz. Weitere Verfahren mit einer Vielzahl von Klägerinnen laufen noch. Der Opferverband PIPA World sieht das Urteil als positives Signal für Klägerinnen aus aller Welt.
Was hat der TÜV damit zu tun?
Bei Arzneimitteln gibt es aufwändige Zulassungsverfahren. Bei sonstigen Medizinprodukten nicht. Hier reicht es aus, eine CE-Kennzeichnung zu erwerben. Dafür muss das Produkt ein sogenanntes Konformitätsbewertungsverfahren durchlaufen. Dabei wird geprüft, ob das Produkt mit europarechtlichen Vorschriften im Einklang ist. Durchgeführt wird dieses Verfahren von einer "benannten Stelle". Dies sind Institutionen, die zur Überprüfung solcher Produkte berechtigt sind, weil sie über die entsprechende Fachkenntnis verfügen (sollten). Welche der verschiedenen "benannten Stellen" bei einem bestimmten Produkt die Prüfung durchführt, ist Entscheidung des Herstellers.
Der TÜV Rheinland hat für den Hersteller PIP von 1997 bis 2010 die Aufgaben der "benannten Stelle" wahrgenommen und war damit für die Überprüfung der Brustimplantate verantwortlich. Die entsprechenden Bewertungen fielen positiv aus, die CE-Kennzeichnung wurde erteilt. Darauf verließen sich die Ärzte, die dieses Produkt ihren Patientinnen empfahlen.
Allerdings war dem TÜV nicht aufgefallen, dass die Implantate aus völlig ungeeignetem und gefährlichem Billigmaterial - nämlich einfachem Industriesilikon - hergestellt wurden. Das konnte auch gar nicht auffallen: Offenbar führte der TÜV betriebliche Kontrollen nur mit Ankündigung durch; eine Prüfung der Implantate fand nicht statt, Unterlagen des Herstellers wurden ungeprüft als wahr akzeptiert und mit einer bewussten Täuschung wurde schon gar nicht gerechnet. Festgestellt wurde die Verwendung von Industriesilikon erst 2010 durch eine französische Aufsichtsbehörde.
Update vom 2.6.2023: Oberstes französisches Gericht entscheidet gegen TÜV
Der französische Kassationsgerichtshof hat in einem letztinstanzlichen Urteil die Verantwortung des TÜV Rheinland für die Verwendung ungeeigneter Brustimplantate bestätigt. Dem Urteil zufolge ist der TÜV Rheinland Frankreich seinen "Pflichten zur Kontrolle, Sorgfalt und Wachsamkeit" im Rahmen der Prüfung der Implantate nicht nachgekommen. Die fachliche Verantwortung habe nachweislich beim TÜV gelegen. Der Kassationsgerichtshof hob mehrere vorinstanzliche Urteile auf, die die Verantwortung des TÜV einschränkten oder nur auf Vorfälle in einem bestimmten Zeitraum eingrenzten. Diese Fälle müssen nun vor einem Berufungsgericht in Lyon neu verhandelt werden. Für zehntausende betroffene Frauen verbessern sich durch dieses Urteil nun die Chancen auf Schadensersatz. Auch verbessert es die Chancen darauf, dass künftig bei einer Zertifizierung von Medizinprodukten auch tatsächlich irgendeine Art von Prüfung stattfindet.
Welche gerichtlichen Klagen gab es?
Nach dem Skandal rutschte PIP schnell in die Insolvenz. Eine Reihe von Geschädigten versuchten daraufhin, den TÜV finanziell in die Verantwortung zu nehmen, da dieser unzureichend seinen Prüfpflichten nachgekommen sei. Viele Klagen scheiterten daran, dass deutsche Gerichte bisher keine gesetzliche Pflicht für genauere Überprüfungen erkennen konnten.
In Frankreich war der TÜV Rheinland im Januar 2017 zur Zahlung von 60 Millionen Euro Schadensersatz an 20.000 Frauen verurteilt worden. Der TÜV legte dagegen Rechtsmittel ein.
Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof
Vor dem Europäischen Gerichtshof ging es dann um die Klage einer Deutschen aus der Pfalz. Diese hatte sich ihre Brustimplantate auf ärztlichen Rat hin durch eine neue Operation wieder entfernen lassen und verlangte 40.000 Euro Schmerzensgeld. Der deutsche Bundesgerichtshof legte dem Europäischen Gerichtshof mehrere Rechtsfragen aus diesem Verfahren zur Beantwortung vor. Dies ist üblich, wenn ein wichtiger Fall Berührung mit dem Europarecht hat. Hier ging es dabei um die europäische Medizinprodukterichtlinie 93/42/EWG.
Es ging zunächst darum, ob die Richtlinie so auszulegen sei, dass die Prüfstelle zum Schutz aller Patienten tätig werde und bei unzureichender Prüfung auch gegenüber den Patienten hafte. Dann fragte der BGH, ob die Regeln über die Überprüfung von Medizinprodukten ein Schutzgesetz im Sinne des deutschen § 823 Abs. 2 BGB seien. Diese Regelung ist Grundlage für Schadensersatzansprüche bei der Verletzung von Gesetzen, die anderer Leute Rechtsgüter schützen sollen.
Zuletzt ging es darum, wie eine Überprüfung auszusehen hat: Müssen Geschäftsunterlagen gesichtet werden, müssen unangekündigte Inspektionen stattfinden und muss dies alles nur mit oder auch ohne einen besonderen Anlass stattfinden?
Wie hat der EuGH entschieden?
Der Europäische Gerichtshof war der Ansicht, dass die Prüfstelle zum Schutz der Implantateempfänger tätig werde. Außerdem seien die Regeln über die Prüfung von Medizinprodukten als Schutzgesetz für fremde Rechtsgüter anzusehen. Grundsätzlich besteht damit die Möglichkeit einer Haftung für den TÜV. Deren Einzelheiten richten sich dann nicht nach der EU-Richtlinie, sondern nach dem nationalen Recht.
Aber: Der EuGH lehnte eine generelle Pflicht der Prüfstelle ab, Medizinprodukte tatsächlich zu prüfen, Geschäftsunterlagen einzusehen oder unangemeldete Inspektionen durchzuführen. Es soll ausreichen, solche Überprüfungen nur anlassbezogen durchzuführen – wenn also der Prüfstelle Hinweise zu Ohren gekommen sind, dass etwas nicht stimmt (EuGH, Urteil vom 16.2.2017, Az. C-219/15).
Wie hat der Bundesgerichtshof 2020 entschieden?
Ende Februar 2020 hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass eine Haftung des TÜV Rheinland gegenüber Patientinnen grundsätzlich möglich ist.
Geklagt hatte eine Krankenkasse, die 26 Frauen die Kosten für den Austausch der minderwertigen Implantate ersetzt hatte. Dieses Geld wollte sie nun zurückhaben. Die entsprechenden Ansprüche der Frauen hatte sich die Kasse abtreten lassen.
Der Bundesgerichtshof bestätigte zunächst das Urteil der Vorinstanz darin, dass eine vertragliche Haftung des TÜV ausscheide. Auch eine Haftung im Rahmen eines sogenannten "Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter" könne hier nicht angenommen werden. Der zwischen der PIP und dem TÜV Rheinland geschlossene Zertifizierungsvertrag diene nicht dem Schutz von Patientinnen. Das CE-Kennzeichen sei gerade kein Gütesiegel, dem Patientinnen ein besonderes Vertrauen entgegenbringen könnten, sondern lediglich eine Voraussetzung für den Vertrieb.
Andererseits sei jedoch eine deliktische Haftung möglich. Deliktische Haftung bedeutet: Wenn jemand einem anderen durch eine unerlaubte Handlung einen Schaden zufügt, muss er dafür haften. Eine Variante davon ist die Verletzung von Gesetzen, die dem Schutz anderer Personen dienen. Die gesetzliche Regelung findet sich in § 823 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB).
Aus Sicht des BGH sind die Regelungen zur Konformitätsprüfung im deutschen Medizinproduktegesetz sowie die Regelungen über die Rechte und Pflichten der Prüfstelle in der Verordnung über Medizinprodukte eben solche Gesetze, die dem Schutz anderer Personen dienen. Die Prüfungstätigkeit der "benannten Stelle" (hier des TÜV Rheinland) sei nicht nur eine Dienstleistung für den Auftraggeber, sondern diene gerade dem Schutz von Implantat-Empfängern.
Eine solche Haftung sei auch sinnvoll: Ohne sie sei der Sinn des gesamten Verfahrens der Konformitätsprüfung fraglich und dieses wertlos. Mit anderen Worten: Wenn man sich eine CE-Kennzeichnung für sein Medizinprodukt einfach kaufen kann und niemand für untaugliche Produkte haftet, kann man sich das Ganze auch sparen.
Das Verfahren wurde vom BGH an die Vorinstanz zurückverwiesen. Diese muss nun prüfen, ob der TÜV Rheinland seine Prüfpflichten verletzt hat und tatsächlich für Schäden haftet. Dabei wird es dann abermals zum Beispiel um die Frage gehen, ob eine Prüfung auch ohne konkreten Anlass und ohne Vorwarnung stattfinden muss (BGH, Urteil vom 27. Februar 2020, Az. VII ZR 151/18).
Klagen gegen die Haftpflichtversicherung von PIP
Klagen richteten sich übrigens auch gegen den Haftpflichtversicherer des Unternehmens PIP. Die französische Versicherung hatte Schadensersatz an französische Geschädigte ausbezahlt, sich aber auf den Standpunkt gestellt, für deutsche Geschädigte nicht zuständig zu sein. So stand es auch im Versicherungsvertrag mit PIP. Das Oberlandesgericht Hamm hatte dies zunächst bestätigt (Beschluss vom 19.6.2017, Az. 3 U 30/17).
Das OLG Frankfurt am Main legte 2018 dem Europäischen Gerichtshof die Frage vor, ob dies nicht vielleicht eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit sei. Wie sähe es denn mit dem Gleichheitsgrundsatz innerhalb der EU aus?
Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 11.6.2020 entschieden, dass die geografische Einschränkung des Versicherungsvertrages keine Diskriminierung ist (6.2.2020, Az. C-581/18).
Praxistipp
Mit dem neuen BGH-Urteil ist eine Haftung des TÜV für Schäden durch minderwertige Brustimplantate bzw. auch für deren vorsorglichen Austausch grundsätzlich möglich. Der weitere Verfahrensverlauf wird zeigen, ob die Gerichte tatsächlich eine Pflichtverletzung bejahen. In den Urteilen aus Frankreich ist dies geschehen. Qualifizierte Beratung in solchen Fällen erteilt ein Fachanwalt für Medizinrecht.