Haftraumgröße und Menschenwürde

26.05.2012, Autor: Frau Nina Wittrowski / Lesedauer ca. 2 Min. (1791 mal gelesen)
Zur Frage der Entschädigung bei menschenunwürdiger Unterbringung in der JVA Tegel

Das Landgericht Berlin hat in seinem Urteil vom 28.03.2012 - Az . 86 O 354/11 - die im vergangenen Jahr eingeschlagene Linie bezüglich der Frage einer Entschädigung wegen menschenrechtswidriger Unterbringung in der JVA Tegel (Urteil vom 30.11.2011 - Az. 86 O 360/11 - bestätigt und fortgeführt.

Hier die Leitsätze der Entscheidung:

1. Der Anspruch auf Entschädigung gem. § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG wegen menschenrechtswidriger Unterbringung in einem zu kleinen Einzelhaftraum (5,25 m²) einer Justizvollzugsanstalt mit baulich nicht abgetrennter Toilette, im Anschluss an die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin vom 03.11.2009 (184/07), ist anhand einer Gesamtschau aller konkreten Umstände, insbesondere der Größe des Haftraumes, der Gestaltung des Sanitärbereiches, aber auch der täglichen Einschlusszeiten und der Dauer der Unterbringung zu prüfen.

2. Die Inhaftierung des Klägers für einen Zeitraum von 134 Tagen in einem Einzelhaftraum von einer Größe von höchstens 5,3 m² mit einer nicht baulich, sondern allenfalls durch einen stabilen Kunststoffvorhang abgetrennten, im selben Raum befindlichen Toilette bei verstößt gegen das Gebot der menschenwürdigen Behandlung von Strafgefangenen gem. Art. 1, 2 GG.

3. Dem Kläger steht für diese amtspflichtwidrige Unterbringung - in Anlehnung an die Regelung des § 7 Abs. 3 StrEG - eine Entschädigung in Höhe von insgesamt 1.460,- € zu, wobei die Höhe des Gesamtbetrages gemäß § 287 ZPO vom Gericht unter Berücksichtigung der entscheidenden Umstände geschätzt wird.

4. Auch vor der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin vom 03.11.2009 (184/07) ist ein vorsatznahes Verschulden jedenfalls in Form eines Organisationsverschuldens zu bejahen, auch wenn in der Rechtsprechung Berliner Gerichte diesbezügliche Beschwerden anderer Inhaftierter zuvor zurückgewiesen wurden, weil schon zuvor in ober- und höchstrichterlichen Entscheidungen Maßstäbe für eine Entschädigung bei unzureichender Haftraumgröße festgelegt wurden.

5. Der Anspruch ist nicht nach § 839 Abs. 3 BGB ausgeschlossen, obgleich der Kläger kein förmliches Rechtsmittel eingelegt hat, weil Rechtsmittel nach § 108, 109 StVollzG nicht aussichtsreich gewesen wären. Hierfür ist darauf abzustellen, wie nach der wirklichen Rechtspraxis entschieden worden wäre; auf einen offensichtlich aussichtslosen Rechtsbehelf kann der Kläger nicht verwiesen werden. Der für die hypothetische Kausalität der jeweils nicht eingelegten Rechtsbehelfe darlegungs- und beweispflichtige Beklagte hätte insoweit auch darzulegen, aus welchen Gründen und von welchem Zeitpunkt an diese im Hinblick auf die Haftbedingungen des Klägers praktische Wirkung entfaltet hätten.

Hier ist die Entscheidung im Langtext zu finden:

https://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE210892012&psml=sammlung.psml&max=true&bs=10

Die Entscheidungen sind Ausfluss der durch den Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin mit Beschluss vom 03.11.2009 - Az. 187/09 - https://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/?quelle=jlink&docid=JURE090050461&psml=sammlung.psml&max=true&bs=10 aufgestellten Grundsätze über die Anforderungen an einen menschenwürdigen Haftraum. Für (ehemalig) Inhaftierte in Berlin bieten sich hier Möglichkeiten, für jeden Tag der menschenunwürdigen Unterbringung eine Geldentschädigung zu fordern.

Selbstverständlich verteidige ich bundesweit in Strafvollstreckungssachen.
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