Schule: Ist Nachsitzen Freiheitsberaubung?

11.08.2021, Redaktion Anwalt-Suchservice
Schule,Nachsitzen,Freiheitsberaubung,Lehrer,Disziplin Machen sich Lehrer strafbar, die ihre Schüler nachsitzen lassen? © Ma - Anwalt-Suchservice

Dürfen Lehrer ihre Schüler nicht mehr nachsitzen lassen? Machen Sie sich vielleicht sogar strafbar, wenn sie es tun? Mit diesen Fragen hatten sich vor einiger Zeit mehrere Gerichte zu befassen.

Natürlich haben auch Schüler Rechte. Andererseits müssen Lehrer aber auch irgendwie für Disziplin sorgen können. Die Schulgesetze listen eine ganze Reihe möglicher Maßnahmen vor. Nur: Gehört das Nachsitzen auch dazu?

Was geschah im Fall von Neuss?


In der Presse sorgte ein Fall aus einer Realschule in Neuss für Aufsehen. Eine sechste Klasse hatte dort derartig viel Lärm veranstaltet, dass dem Musiklehrer schließlich der Geduldsfaden riss: Er ließ alle Schüler der Klasse nachsitzen. Sie mussten also nach Beendigung des Unterrichts im Klassenraum bleiben und einen Wikipedia-Artikel über den Geiger Paganini abschreiben.
Am eigenmächtigen Verlassen des Klassenraums wollte der Lehrer sie hindern, indem er sich mit einem Stuhl und seiner Gitarre innen vor die Tür setzte. Er nutzte die Zeit, um auf die Gitarre neue Saiten aufzuziehen. Allerdings rief nun ein Schüler per Handy die Polizei. Er sprach von einem Lehrer, der Schüler schlage und gegen ihren Willen festhalte. Umgehend rückte die Polizei an und beendete das Nachsitzen. Der Lehrer wurde von Eltern wegen Freiheitsberaubung angezeigt und ebenfalls wegen Körperverletzung: Angeblich habe er einen der Schüler mit der Faust in den Bauch gestoßen.

Nachsitzen: Wie entschied das Gericht?


Nicht lange aufrechterhalten ließ sich der Vorwurf der Körperverletzung. Der betreffende Schüler sagte dazu aus, dass der Lehrer aus seiner Sicht nicht absichtlich gehandelt habe. Es habe sowieso nicht lange wehgetan.
Anders sah es mit dem Vorwurf der Freiheitsberaubung wegen des angeordneten Nachsitzens aus. Der Lehrer wurde vom Amtsgericht Neuss in erster Instanz wegen Freiheitsberaubung verurteilt. Die Folge war allerdings keine Strafe. Das Gericht entschied sich vielmehr für eine "Verwarnung mit Strafvorbehalt". Es verpflichtete den Lehrer, an einer Fortbildung über den Umgang mit undisziplinierten Schülern teilzunehmen. Komme er dieser Auflage nicht nach, würde eine Geldstrafe in Höhe von 1.000 Euro fällig.

Wie entschied die zweite Instanz?


Das Landgericht Düsseldorf sprach im Februar 2017 den Lehrer in zweiter Instanz jedoch von allen Vorwürfen frei. Das Gericht vernahm weitere Schüler als Zeugen und kam zu dem Ergebnis, dass weder eine fahrlässige Körperverletzung noch eine Freiheitsberaubung stattgefunden habe. Die Aussagen der Schüler seien in vielen Punkten widersprüchlich. Für das Berufungsgericht stand fest, dass jeder Schüler, der dies gewollt habe, jederzeit das Klassenzimmer hätte verlassen können - und zwar auch ohne Abgabe der Arbeiten. Die Tür sei durch den Lehrer nicht vollständig blockiert worden.

Das Gericht hatte insbesondere Zweifel an den Aussagen des Schülers, der die Polizei gerufen hatte. Dieser hatte vor Gericht versucht, den Lehrer möglichst negativ darzustellen und ihn mit nicht beweisbaren Behauptungen in ein schlechtes Licht zu rücken. Dies schränkte aber den Wert seiner Zeugenaussage erheblich ein (Urteil vom 17.2.2017, Az. 5 Ns 63/16).

Was sagen die Schulgesetze der Länder zum Nachsitzen?


Ja. Nachsitzen ist grundsätzlich weiter zulässig. Es stellt eine der milderen Erziehungs- oder Ordnungsmaßnahmen dar, die von Lehrern verhängt werden dürfen. Die Einzelheiten regeln die Schulgesetze der Bundesländer. Es gibt jedoch zwischen den Regelungen der einzelnen Bundesländer einige Unterschiede. So darf zum Beispiel in Baden-Württemberg ein Lehrer seine Schüler bis zu zwei Unterrichtsstunden nachsitzen lassen. Der Schulleiter darf dort sogar bis zu vier Stunden Nachsitzen anordnen.

In Bayern ist das Nacharbeiten unter Aufsicht einer Lehrkraft erlaubt - unter der Voraussetzung, dass der Schüler Unterrichtsstoff versäumt hat.
In Sachsen gibt es keine ausdrückliche gesetzliche Regelung. Nachsitzen kann dort allerdings als eine "andere Erziehungsmaßnahme" erlaubt sein.
In Rheinland-Pfalz ist das Nachsitzen zwar als reine Erziehungs- oder Ordnungsmaßnahme nicht zulässig. Das Nacharbeiten von versäumtem Lernstoff unter Aufsicht eines Lehrers ist jedoch auch dort erlaubt.
In Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Schleswig-Holstein dürfen Lehrer ihre Schüler nachsitzen lassen, damit diese versäumten Unterrichtsstoff nachholen können. Die Eltern müssen allerdings zuvor benachrichtigt werden.

Welche Regeln gelten in Nordrhein-Westfalen?


In dem hier beschriebenen Fall war das Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen anzuwenden. Nach dessen § 53 Absatz 2 dürfen erzieherische Einwirkungen und Ordnungsmaßnahmen angewendet werden, wenn ein Schüler seine Pflichten verletzt. Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unbedingt zu beachten. Zu den erlaubten erzieherischen Methoden zählt ausdrücklich auch "die Nacharbeit unter Aufsicht nach vorheriger Benachrichtigung der Eltern".

Diese wäre hier also problemlos zulässig gewesen. Mit Nacharbeit ist jedoch das Nachholen von versäumtem Lernstoff gemeint. Nacharbeit bedeutet nicht, dass als eine Art Strafe irgendwelche Texte abgeschrieben werden müssen oder der Schüler vielleicht 100-mal "ich muss besser aufpassen" an die Tafel schreiben muss. Im verhandelten Fall fehlte auch eine Benachrichtigung der Eltern. Insofern ist hier wohl davon auszugehen, dass die Maßnahme des Lehrers nicht im Einklang mit dem Schulgesetz von NRW geschah.

Was ist eigentlich Freiheitsberaubung?


Nach § 239 des Strafgesetzbuches (StGB) ist die Freiheitsberaubung eine Straftat. Diese Regelung besagt: „Wer einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Bereits der Versuch ist strafbar. Aber: Nach Überzeugung des Gerichts wurden die Schüler im oben geschilderten Fall nicht in diesem Sinne eingesperrt.

Was muss man über Freiheit als Grundrecht wissen?


Die persönliche Freiheit gehört zu den Grundrechten. Wichtig zu wissen ist jedoch: Grundrechte können auch eingeschränkt werden, wenn dies erforderlich ist. Dazu braucht man ein Gesetz, das auch das jeweilige Grundrecht beim Namen nennt.
Dies ist beim Schulgesetz von NRW der Fall. Dort heißt es: "Durch dieses Gesetz werden eingeschränkt: ... das Grundrecht der Freiheit der Person gemäß Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes nach Maßgabe der §§ 34 bis 41 (Schulpflicht) sowie des § 42 Abs. 1 (Allgemeine Rechte und Pflichten aus dem Schulverhältnis)."
Wäre es anders, könnten auch einfach alle Schüler den Lehrer auf ihre Grundrechte verweisen und mit Berufung auf ihre persönliche Freiheit nach Hause gehen.

Praxistipp


Für Lehrer ist das Urteil des Landgerichts ein Grund zum Aufatmen. Der Umgang mit unbotmäßigen Schülern ist häufig nicht einfach. Wäre der Prozess anders ausgegangen, hätte dies bedeutet, dass vielleicht künftig bei jeder schulischen Disziplinarmaßnahme die Polizei gerufen worden wäre. Beim Thema Nachsitzen ist allerdings immer auch das Landesschulgesetz zu beachten.
Ein Fachanwalt für Strafrecht kann dabei helfen, ungerechtfertigte Vorwürfe abzuwehren. Kommt es zu einem Ermittlungs- oder Strafverfahren, sollte der Anwalt so früh wie möglich und am besten vor einer Aussage bei der Polizei hinzugezogen werden.

(Bu)


 Stephan Buch
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