Sorgerecht: Wann ist das Kindeswohl gefährdet?

12.09.2023, Redaktion Anwalt-Suchservice
Sorgerecht,Kindeswohl,Familiengericht,Trennung Der Begriff des Kindeswohls wird oft verwendet. Was ist damit gemeint? © Rh - Anwalt-Suchservice
Das Wichtigste in Kürze

1. Physische und emotionale Misshandlung: Bei Kindern, die körperliche Gewalt, Vernachlässigung oder emotionale Misshandlung erfahren, ist das Kindeswohl gefährdet. Hierzu zählen insbesondere auch sexuelle Ausbeutung und Missbrauch.

2. Unsichere Lebensbedingungen: Mangel an angemessener Betreuung, Nahrung, Bildung oder medizinischer Versorgung gefährden das Wohl des Kindes erheblich.

3. Gerichtliche Anordnungen: Das Familiengericht kann gemäß § 1666 Absatz 3 BGB Anordnungen gegen die Eltern und andere Personen erlassen, die der Personen- und Gesundheitsfürsorge des Kindes dienen. Oft geschieht dies auf Betreiben der Kinder- und Jugendhilfe.
Praktisch alle Entscheidungen des Familiengerichts, die sich mit Kindern befassen, orientieren sich am Kindeswohl oder haben dieses als Maßstab. Es kann in solchen Verfahren um das Sorgerecht gehen, um das Umgangsrecht mit dem Kind oder auch um das Recht zur Aufenthaltsbestimmung. Bei anderen Fragen hat das Kindeswohl eher indirekten Einfluss, zum Beispiel, wenn ein Ehepartner nach einer Trennung die vorläufige Zuweisung der bisher gemeinsamen Wohnung zur alleinigen Nutzung beantragt, weil er ein Kind betreut, das nicht aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen werden soll. Was ist nun genau unter dem Kindeswohl zu verstehen, und wann gilt es als gefährdet?

Was ist das Kindeswohl?


Mit dem Kindeswohl ist das gesamte Wohlergehen eines Kindes gemeint. Dies schließt das körperliche, geistige und seelische Wohlergehen ein und auch seine gesunde Entwicklung. Das Kindeswohl ist ein Rechtsgut. Es ist nicht nur im deutschen Recht mit einem hohen Stellenwert fest verankert, sondern hat seinen Platz auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Wie empfinden Kinder eine Trennung der Eltern?


Unter einer Trennung der Eltern leiden die Kinder oft am meisten. Für sie ist nicht nur die Situation selbst schlimm, sondern auch, dass sich die Eltern als ihre Hauptbezugspersonen plötzlich nicht mehr gegenseitig vertrauen. Unter Umständen kämpfen diese sogar mit harten Bandagen und gegenseitigen Anschuldigungen um das Sorgerecht. Da das Kindeswohl auch bei dieser Entscheidung das Hauptkriterium ist, dient es den streitenden Elternteilen gern als Hauptargument. Den Kindern tut dies jedoch nicht unbedingt gut.

So stellen zerstrittene Eltern immer wieder den Aufenthalt des Kindes beim anderen Elternteil so dar, dass dadurch das Wohl des Kindes in Gefahr ist – zum Beispiel durch Vernachlässigung, Alkoholprobleme des Ex-Partners, nicht angemessenen Medienkonsum oder durch problematische Kontakte mit anderen Personen. Solche Vorwürfe können allerdings auch von anderer Seite kommen – etwa vom Jugendamt. Dieses kann beim Familiengericht Schritte bis hin zur Entziehung des Sorgerechts in die Wege leiten, wenn es zu dem Ergebnis kommt, dass das Wohl eines Kindes durch seine Eltern in Gefahr ist.

Wann ist das Kindeswohl gefährdet?


Als gefährdet wird das Kindeswohl angesehen, sobald eine Schädigung des körperlichen, seelischen oder geistigen Wohls des Kindes besteht oder unmittelbar einzutreten droht. Natürlich ist diese Definition sehr allgemein. Daher folgen hier einige Beispiele für Fälle, in denen oft eine Kindeswohlgefährdung besteht:

- Körperliche und seelische Misshandlungen und sexueller Missbrauch,
- Verweigerung ärztlicher Behandlungen oder notwendiger Medikamente,
- Drogen- und Alkoholsucht der Eltern,
- elterliche Fehler bei der Ausbildung (Kind wird von der Schule genommen, Kind wird ohne eigenes Mitspracherecht an anderer Schule oder im Internat angemeldet, Erstausbildung wird nicht finanziert),
- Vernachlässigung (mangelnde Ernährung, Hygiene, Bekleidung etc.).

Außerdem geht man von einer Gefährdung des Kindeswohls aus, wenn das Vermögen des Kindes gefährdet ist – falls es welches hat. So etwas kommt zum Beispiel bei Erbschaftsstreitigkeiten vor.

Welche gesetzlichen Regelungen gibt es zum Kindeswohl?


In § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) geht es um die möglichen gerichtlichen Maßnahmen bei einer Gefährdung des Kindeswohls. Die Regelung bezweckt den Schutz von Kindern. Sie ist bei jeder Gefährdung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls eines Kindes oder seines Vermögens anwendbar. Liegt eine solche Gefährdung vor und sind die Eltern nicht willens oder in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen, muss das Familiengericht einschreiten. Es kann je nach Lage der Dinge unter mehreren möglichen Maßnahmen auswählen.

Welche Schritte kann das Familiengericht anordnen?


Die möglichen Maßnahmen nennt § 1666 Absatz 3 BGB:

- Ein gerichtliches Gebot, eine öffentliche Hilfe wie eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe oder der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
- das Gebot, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
- das Verbot an einen Elternteil, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder bestimmte andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,
- das Verbot, Kontakt zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit diesem herbeizuführen,
- das Ersetzen von Erklärungen des Sorgerechtsinhabers durch eine gerichtliche Erklärung,
- die teilweise oder vollständige Entziehung des Sorgerechts.

Unter der Personensorge versteht man die Fürsorge für die Person des Kindes, seine Erziehung, seine Beaufsichtigung, seinen Aufenthaltsort usw. Betrifft die Kindeswohlgefährdung diesen Bereich, kann das Gericht nicht nur gegen die Eltern, sondern auch gegen dritte Personen Anordnungen erlassen. Dabei muss es jedoch die Verhältnismäßigkeit wahren.

Beispiel: Lebensgefährte mit Vorstrafe


Eine allein sorgeberechtigte Mutter war mit ihrem neuen Lebensgefährten in dessen Wohnung zusammengezogen. Ihre siebenjährige Tochter zog mit ein. Allerdings war der Mann schon zweimal wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt worden, einmal in Tateinheit mit Vergewaltigung. Er hatte viereinhalb Jahre Freiheitsstrafe abgesessen und war danach noch wegen des Besitzes von Kinderpornografie und Nachstellung verurteilt worden. Aus diesen Gründen unterlag er einem gerichtlichen Verbot, Kontakt mit weiblichen Kindern und Jugendlichen zu haben, ohne dass deren Erziehungsberechtigte anwesend waren.

Als das Jugendamt vom Einzug der neuen Partnerin und ihrer Tochter bei diesem Mann erfuhr, regte es beim Familiengericht an, der Mutter das Sorgerecht zum Teil zu entziehen. Das Gericht kam dem nach und ernannte das Jugendamt zum Ergänzungspfleger. Anschließend wohnte das Mädchen zunächst bei einer befreundeten Familie und danach in einem Kinderhaus.

Die Mutter zog vor Gericht. Das Oberlandesgericht Karlsruhe nahm die teilweise Entziehung des Sorgerechts zurück. Es ordnete stattdessen an, dass das Kind sich nur mit dem Mann zusammen in der Wohnung aufhalten dürfe, wenn die Mutter dabei war. Ein gleichzeitiger Aufenthalt von Mann und Kind in der Wohnung bei Nacht war untersagt. Auch der Mann bekam Auflagen. So musste er unangekündigte Kontrollbesuche des Jugendamts hinnehmen.

Zwar ging die Mutter auch gegen diese Anordnungen vor und klagte bis vor den Bundesgerichtshof. Damit hatte sie jedoch keinen Erfolg. Der BGH erklärte, dass man nur dann von einer Gefährdung des Kindeswohls ausgehen könne, wenn dem Kind tatsächlich schwerer Schaden drohe und diese Bedrohung mit konkreten Verdachtsmomenten belegt werden könne. Genau dies sei hier wegen der Rückfall-Wahrscheinlichkeit des Lebensgefährten der Fall. Aus diesem Grund seien die Anordnungen des Oberlandesgerichts verhältnismäßig (Urteil vom 23.11.2016, Az. XII ZB 149/16).

Beispiel: Kindeswohl contra Umgangsrecht der Großeltern


In einem anderen Fall hatte ein Großelternpaar Klage erhoben. Sie wollten wieder Umgang mit ihren Enkelkindern haben dürfen, den die Eltern jedoch untersagt hatten. Der Grund: Die Großeltern hatten in puncto Erziehung völlig andere Ansichten, als die Eltern. Auch mischten sich die Großeltern ständig ein und stritten vor den Kindern mit den Eltern darüber. Erst ein zinsloses Darlehen der Großeltern an die Eltern führte dazu, dass ihnen wieder Umgang mit den Enkelkindern gewährt wurde. Die Großeltern bestanden jedoch darauf, dass das Geld sofort zurückgezahlt werde, falls sie ihre Enkel nicht mehr sehen dürften. Schließlich erfuhren die Eltern, dass die Großeltern sich beim Jugendamt schriftlich über sie beschwert hatten – so hatten sie unter anderem eine "seelische Misshandlung" der Kinder durch die Eltern behauptet. Daraufhin verboten die Eltern den Großeltern erneut den Umgang mit den Kindern.

Der Fall kam vor den Bundesgerichtshof. Zwar haben Großeltern ein gesetzliches Umgangsrecht mit den Enkelkindern. Voraussetzung ist jedoch, dass der Umgang dem Kindeswohl dient (§ 1685 BGB). Nach dem BGH ist dies der Fall, wenn der Umgang die Entwicklung der Kinder fördert. Der Umgang diene jedoch nicht mehr dem Kindeswohl, wenn die Eltern diesen ablehnten, beide Parteien vollkommen zerstritten seien und die Kinder sich in einem ständigen Loyalitätskonflikt befänden. Laut Grundgesetz sei die Erziehung hauptsächlich Sache der Eltern. Ständige Einmischungen der Großeltern dienten nicht dem Kindeswohl. Dabei spiele es keine Rolle, wer nun an dem Streit schuld sei. Anzeichen für eine "seelische Misshandlung" der Kinder existierten nicht. Der Bundesgerichtshof wies den Antrag der Großeltern auf Umgang mit den Enkelkindern ab (Beschluss vom 12.7.2017, Az. XII ZB 350/16).

Beispiel: Gerichtliches Smartphone-Verbot für eine Achtjährige?


Ein getrenntes Ehepaar stritt über das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die achtjährige Tochter. Das Gericht erfuhr bei der - in solchen Fällen üblichen - Anhörung des Kindes, dass das Kind ein eigenes Smartphone besaß und Zugang zu den Geräten der Mutter hatte. Das Gericht übertrug der Mutter das Recht zur Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes. Allerdings verpflichtete es sie auch dazu, die Internetnutzung der Tochter einzuschränken und an feste Zeiten zu binden, sowie dem Kind das Smartphone wegzunehmen, bis es zwölf Jahre alt sei.

Das Oberlandesgericht als höhere Instanz hob diese Auflagen wieder auf. Maßnahmen zum Schutz des Kindeswohls seien nur zulässig, wenn andernfalls ein Schaden für das Kind mit einiger Sicherheit zu erwarten sei. Dies sei hier nicht der Fall. Es existierten keinerlei Hinweise für eine missbräuchliche Internetnutzung durch das Kind. Obendrein greife eine solche Anordnung allzu stark in das vom Grundgesetz gewährleistete Recht der Eltern auf die Erziehung ihres Kindes ein (OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 15.6.2018, Az. 2 UF 41/18).

Praxistipp zu Kindeswohl und Sorgerecht


Rechtlich können Streitigkeiten um das Umgangs- und Sorgerecht durchaus knifflig werden. Daher ist eine Beratung durch einen Fachanwalt für Familienrecht ratsam. Soll Verwandten, die grundsätzlich ein Umgangs- oder Sorgerecht haben, dieses entzogen werden, ist der Weg zum Anwalt mit Blick auf die richtige Darstellung der Umstände und die rechtlich einwandfreie Stellung der Anträge vor dem Familiengericht erst recht zu empfehlen.

(Wk)


 Günter Warkowski
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