Wirecard-Insolvenz: Haben Aktionäre eine Chance auf Schadensersatz?
10.10.2024, Redaktion Anwalt-Suchservice
© Bu - Anwalt-Suchservice Wirecard nahm als Zahlungsdienstleister bei Onlinegeschäften und an Ladenkassen bargeldlose Zahlungen von Kunden an und leitete diese an die einzelnen Händler weiter. Presseberichten nach hat sich der deutsche Zahlungsdienstleister in puncto Bilanzierung nicht regelkonform verhalten. Schließlich wurde dem DAX-Unternehmen das Testat der Wirtschaftsprüfer zum Jahresabschluss verweigert. 1,9 Milliarden Euro verschwanden auf asiatischen Treuhandkonten, vielleicht hat dieser Betrag aber auch nie existiert. Das Unternehmen meldete 2020 Insolvenz an. Was weiß man über die Vorgänge und welche Rechte haben geschädigte Aktionäre?
Der Wirecard-Skandal begann mit einem Bericht in der Financial Times vom 30. Januar 2019. Dabei ging es um Geldwäsche und um gefälschte Verträge durch einen wichtigen Mitarbeiter in Singapur. Es folgten weitere Berichte über Straftaten in Singapur - und eine Durchsuchung der dortigen Büros durch die Behörden. Der Kurs der Aktien sank mit jedem Zeitungsbericht. Während in den USA bald erste Rufe nach einer Sammelklage von Aktionären laut wurden, verklagte Wirecard die Financial Times und wies alle Vorwürfe weit von sich. Einen Gerichtstermin ließ Wirecard allerdings platzen.
Die Zeitung beauftragte daraufhin eine Anwaltskanzlei mit einer unabhängigen Untersuchung der eigenen Arbeit. Das Ergebnis: Die "FT" hatte nicht mit sogenannten Shortsellern zusammengearbeitet, also Spekulanten, die auf fallende Kurse einer Aktie wetten. Allerdings gab es in dieser Sache auch ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft München gegen die Zeitung. Die Strafanzeige stammte von der deutschen Finanzaufsicht BaFin. Das Verfahren wurde jedoch im Herbst 2020 eingestellt, weil sich keine Beweise dafür finden ließen, dass die betreffenden Reporter Informationen an Dritte weitergegeben hatten.
Im Oktober 2019 beauftragte Wirecard das Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG mit einer außerplanmäßigen Prüfung. Veröffentlicht wurde der Bericht im April 2020. Für Wirecard war damit bewiesen, dass alles in Ordnung war: Beweise für Fehlverhalten wurden nicht gefunden. Dies stellte sich aus der Sicht von Außenstehenden jedoch ganz anders dar: Laut KPMG-Bericht konnten die Prüfer nicht feststellen, ob diverse Umsätze aus Drittpartnergeschäften in den Jahren 2016 bis 2018 überhaupt existierten. Diverse Unterlagen seien gar nicht einsehbar gewesen. Wieder fielen die Aktenkurse.
Im Mai 2020 verschob Wirecard seine Hauptversammlung. Die Jahresbilanz konnte nicht veröffentlicht werden. Die bereits seit zehn Jahren mit der Prüfung der Jahresabschlüsse beauftragte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young erteilte dem Jahresabschluss kein Testat.
Im Juni 2020 fand eine Durchsuchung der Geschäftsräume von Wirecard in Aschheim durch die Staatsanwaltschaft München statt. Der Vorwurf: Die Geschäftsführung habe durch die "ad-Hoc-Mitteilungen" am 12.3.2020 und 22.4.2020 irreführende Signale an die Aktienmärkte gesandt, um den Aktienkurs zu manipulieren.
Am 18.6.2020 gab Wirecard zu, dass 1,9 Milliarden Euro (rund ein Viertel der Konzern-Bilanzsumme) entweder verschwunden seien oder nie existiert hätten. Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young hätten dieses angeblich auf philippinischen Treuhandkonten untergebrachte Geld nicht gefunden. Wirecard sprach von Betrug und sah sich als Opfer. Während der Aktienkurs abstürzte, trat Firmengründer Markus Braun als CEO zurück. Wenig später wurde er verhaftet und dann gegen eine Kaution von 5 Millionen Euro wieder auf freien Fuß gesetzt. Sein Strafprozess beginnt am 8.12.2022. Auch gegen den ehemaligen Vorstand Jan Marsalek erging Haftbefehl. Dieser soll derzeit in Moskau untergetaucht sein.
Bekannt wurde außerdem, dass Wirecard Bankkredite im Wert von zwei Milliarden Euro laufen hatte. Ohne testierten Jahres- und Konzernabschluss bestand hier die Möglichkeit der Kündigung.
Am 25.6.2020 stellte die Wirecard AG beim Amtsgericht München Insolvenzantrag.
Mögliche Gründe für eine Manipulation können einerseits ein höherer Börsenwert der Aktien, andererseits aber auch die Möglichkeit gewesen sein, in einigen anderen Ländern Lizenzen für Bankgeschäfte zu erhalten. In Deutschland gehörte eine hauseigene Bank zum Konzern, die Zahlungen von Kunden annahm und weitergab. Eine Lizenz für solche Geschäfte ist jedoch nicht selbstverständlich. Sie wird in einigen Ländern nur erteilt, wenn ein gewisses Geschäftsvolumen erreicht wird.
Als Manipulationsmethode kann dabei das sogenannte "round tripping" zur Anwendung kommen. Dabei werden Gelder zwischen verschiedenen Stellen hin- und hergeschoben, um Geschäfte zu simulieren, die in Wahrheit nie stattgefunden haben.
Eine weitere Methode ist die Nutzung ausländischer Partnerfirmen, die in ihren Ländern entsprechende Lizenzen besitzen. Wirecard arbeitete mit vielen solcher "Drittpartner" zusammen. Das Hauptgeschäft in Asien wurde jedoch durch drei Partner erwirtschaftet - einer davon auf den Philippinen. Den Wirtschaftsprüfern zufolge sollen mit den Vertragspartnern oft nur lückenhafte Verträge existiert haben, auf denen zum Teil Unterschriften fehlten.
Anleger können Schadensersatzansprüche aus §§ 97 und 98 des Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG) haben. Diese Ansprüche beziehen sich auf die unterlassene unverzügliche Veröffentlichung von Insiderinformationen und die Veröffentlichung unwahrer Insiderinformationen. Ausgeschlossen sind solche Ansprüche, wenn - im ersten Fall - das Unternehmen beweisen kann, dass die Unterlassung nicht auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beruht oder - im zweiten Fall - dass es die Unrichtigkeit der Insiderinformation nicht gekannt hat und die Unkenntnis nicht auf grober Fahrlässigkeit beruht.
Zum Beispiel hätte das Unternehmen sofort bekannt geben müssen, dass 1,9 Mrd. Euro an Bilanzsumme gar nicht existierten, als es dies selbst erfuhr. Auch frühere Mitteilungen an die Öffentlichkeit - wie die "ad-Hoc-Mitteilungen" vom 12.3.2020 und 22.4.2020 sind vor dem Hintergrund der bekanntgewordenen Missstände kritisch zu prüfen. Der Schadensersatzanspruch kann den Kursverlust der Aktien umfassen, unter Umständen auch den gesamten Investitionswert. Grundsätzlich beruht diese Möglichkeit auf einem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 13.12.2011 (Az. XI ZR 51/10).
Das Landgericht München I hat jedoch gestern gegen die Aktionäre entschieden. Dabei wurde das Bestehen eines Schadensersatzanspruches an sich gar nicht geprüft. Das Gericht wies die Klage des Anteilseigners Union Investment gegen den Insolvenzverwalter auf 243 Millionen Euro Schadensersatz mit der Begründung ab, dass Anteilseigner nicht als Insolvenzgläubiger gelten und ihre Schadensersatzforderungen daher nicht zur Insolvenztabelle anmelden können. Tatsächlich ist es bisher übliche Praxis, dass Forderungen von Anteilseignern nachrangig hinter denen von kreditgebenden Banken oder Gläubigern von Unternehmensanleihen behandelt werden. Dem Gericht zufolge ist jedenfalls eine Einordnung der Ansprüche von Aktionären als Insolvenzforderung nicht "mit den Grundwerten des Insolvenzrechts vereinbar" (Urteil vom 23.11.2022, Az. 29 O 7754/21).
Der Insolvenzverwalter wird das nun ergangene Urteil zum Anlass nehmen, auch die übrigen bereits bei ihm geltend gemachten Forderungen von Aktionären zurückzuweisen - dabei geht es um 20.000 Anleger mit Gesamtforderungen von sieben Milliarden Euro.
Aber: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, und der Bundesgerichtshof wird hier noch eine grundsätzliche Entscheidung zum Schadensersatz für Anleger zu treffen haben.
Wenn Anleger Verluste erlitten haben, weil die langjährig mit der Prüfung der Jahresabschlüsse beauftragte Prüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) nicht sorgfältig genug gearbeitet hat, sind auch hier grundsätzlich Ansprüche möglich. Allerdings wird eine genaue Untersuchung erforderlich sein, inwieweit die verwendeten Manipulationen bei dem üblichen Umfang einer solchen Prüfung hätten auffallen müssen. Andererseits fragt es sich, ob nicht angesichts der wiederholten Presseberichte über Wirecard eine genauere Prüfung angezeigt gewesen wäre. Bereits 2016 wurden die ersten Vorwürfe gegen Wirecard bekannt.
Eine mögliche Argumentation könnte auch darin bestehen, dass EY das Testat für den Jahresabschluss der Wirecard-Tochter Wirecard Singapore Pte. Ltd. für 2017 verweigert hatte. Der Grund: Diverse Buchungen und Transaktionen waren nicht durch Unterlagen belegt. Trotzdem wurden 2017 und 2018 Testate für den Konzernabschluss erteilt. Für Anleger erschien das Unternehmen damit als gute Investition.
Grundsätzliche Chancen auf Schadensersatz könnten insbesondere bei Aktien bestehen, die zwischen dem 24.2.2016 und dem 17.6.2020 erworben wurden.
Tatsächlich hat der vom Bundestags-Untersuchungsausschuss eingesetzte Sonderermittler Martin Wambach bei den Wirtschaftsprüfern von EY bereits 2021 in einem Bericht mögliche Verstöße gegen Berufspflichten gesehen. Ein berufsrechtliches Verfahren der Wirtschaftsprüferaufsicht Apas gegen EY und einzelne Prüfer läuft.
Die Wirecard Bank AG hat zum Ablauf des 9.12.2021 (24.00 Uhr) auf ihre Bankerlaubnis verzichtet. Die Firmenbezeichnung lautet seit Beginn der gesellschaftsrechtlichen Abwicklung am 1.7.2022 (0.00 Uhr) "WDB Abwicklungs AG i.L.". Bankgeschäfte finden nicht mehr statt, das Bestandsgeschäft wird abgewickelt.
Das deutsche Recht ermöglicht in solchen Fällen ein sogenanntes Kapitalanleger-Musterverfahren. In diesem kann sich eine größere Zahl von geprellten Anlegern zusammenschließen. Dabei können Tatsachen- und Rechtsfragen, die sich in mindestens zehn individuellen Schadensersatzprozessen gleichlautend stellen, durch das Oberlandesgericht einheitlich bindend, für alle Kläger entschieden werden.
Eine deutsche Anwaltskanzlei hat im Mai 2020 Antrag auf Einleitung eines solchen Verfahrens gestellt.
Das Landgericht München I hat am 14.3.2022 beschlossen, ein solches Musterverfahren einzuleiten (Az. 3 OH 2767/22 KapMuG), und zwar gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Wirecard AG, Markus Braun und die Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Das Bayerische Oberste Landesgericht wird daraufhin gebündelt für alle Parallelverfahren über die wesentlichen Haftungsfragen zu entscheiden haben.
Auch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ist im Zuge des Wirecard-Skandals unter Kritik geraten. So wurde sie von Wirecard-Aktionären wegen Versäumnissen bei der Aufsicht und wegen Amtsmissbrauchs auf Schadensersatz für deren Kursverluste verklagt. Dahinter stand die Überlegung, dass es der Aufsichtsbehörde vielleicht hätte auffallen sollen, dass 1,9 Mrd. Euro in der Bilanz nur in der Fantasie der Geschäftsleitung existierten.
Das Oberlandesgericht Frankfurt wies die Klage jedoch ab. Die BAFin sei erst an zweiter Stelle für eine umfassende Prüfung von Wirecard verantwortlich gewesen. Sie habe 2019 eine Prüfung durch die DPR (Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung) veranlasst. Es hätten keine Anhaltspunkte dafür bestanden, diese Prüfung früher zu veranlassen oder selbst durchzuführen. Auch stünde nicht fest, ob der Kläger bei einer früheren Prüfung einen geringeren Schaden durch abstürzende Kurse erlitten hätte. Hinzu komme: Die BAFin sei allein in öffentlichem Interesse tätig. Ihre Arbeit diene nicht dem Schutz der Aktionäre. Ein Amtsmissbrauch im Verhalten der Mitarbeiter der BAFin sei nicht feststellbar.
Bisher sind 500 Verfahren in dieser Sache gegen die BAFin anhängig. Diese haben wohl nun jedoch wenig Chancen auf Erfolg. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Die Zulassung einer Revision kann per Nichtzulassungsbeschwerde begehrt werden (OLG Frankfurt am Main, Hinweisbeschluss vom 28.11.2022, Beschluss vom 6.2.2023, Az. 1 U 173/22).
50.000 Aktionäre von Wirecard hoffen auf eine Entschädigung. Ein Urteil des OLG München macht diese nun etwas wahrscheinlicher. In dem Verfahren der Vermögensverwaltung Union Investment gegen den Insolvenzverwalter von Wirecard hat das Gericht entschieden, dass Aktionäre ihre Forderungen zur Insolvenztabelle anmelden dürfen. Allerdings handelt es sich nur um ein sogenanntes Zwischenurteil, mit dem noch nicht feststeht, ob tatsächlich Schadensersatz gezahlt wird. Der Insolvenzverwalter steht nach wie vor auf dem Standpunkt, dass Schadensersatzforderungen von Aktionären nicht gleichrangig zu behandeln sind mit den Forderungen von Gläubigern und ehemaligen Arbeitnehmern des Unternehmens. Denn: Aktionäre hätten zwar Kursverluste erlitten. Die anderen Gläubiger hätten Leistungen erbracht, für die sie nicht bezahlt worden seien. Ob Aktionäre und andere Gläubiger hier gleich zu behandeln sind, ist auch höchstrichterlich noch nicht entschieden. Voraussichtlich wird sich der Bundesgerichtshof noch mit dem Fall befassen müssen (Urteil vom 23.11.2022, Az. 29 O 7754/21).
Die Aktionäre von Wirecard fordern Schadensersatz in Höhe von 8,5 Milliarden Euro. Die Gläubiger des Unternehmens haben insgesamt Forderungen von 15,4 Milliarden Euro angemeldet. Allerdings liegt der vom Insolvenzverwalter gesicherte Betrag bisher bei nur 650 Millionen Euro. Sehr wahrscheinlich kann also in jedem Fall nur ein kleiner Teil der Forderungen beglichen werden.
Haben Sie als Aktionär von Wirecard finanzielle Schäden erlitten, sollten Sie mögliche Schadensersatzansprüche zeitnah prüfen lassen. Hier ist der beste Ansprechpartner ein Fachanwalt für Bankrecht bzw. Kapitalmarktrecht.
2020 ging das DAX-Unternehmen Wirecard in die Insolvenz. Offenbar waren die Bilanzen manipuliert worden. Nun gibt es erste Urteile zum Schadensersatz für Anleger.
Dieser Rechtstipp behandelt folgende Themen:
Wirecard - eine Chronologie der Ereignisse Was sind die möglichen Gründe für eine Bilanzmanipulation? Welche Ansprüche könnten Geldanleger gegen Wirecard haben? Erstes Urteil: Wie hat das Landgericht München zum Schadensersatz für Aktionäre entschieden? Können Anleger auch Ansprüche gegen Ernst & Young geltend machen? Welche Besonderheiten gelten für die Wirecard Bank? Kommt es zu einem Musterverfahren? Update vom 17.02.2023: Entscheidung zu Schadensersatzklage gegen BAFin Update vom 10.10.2024: Hoffnungsschimmer vom Oberlandesgericht München Praxistipp zu Wirecard Wirecard - eine Chronologie der Ereignisse
Der Wirecard-Skandal begann mit einem Bericht in der Financial Times vom 30. Januar 2019. Dabei ging es um Geldwäsche und um gefälschte Verträge durch einen wichtigen Mitarbeiter in Singapur. Es folgten weitere Berichte über Straftaten in Singapur - und eine Durchsuchung der dortigen Büros durch die Behörden. Der Kurs der Aktien sank mit jedem Zeitungsbericht. Während in den USA bald erste Rufe nach einer Sammelklage von Aktionären laut wurden, verklagte Wirecard die Financial Times und wies alle Vorwürfe weit von sich. Einen Gerichtstermin ließ Wirecard allerdings platzen.
Die Zeitung beauftragte daraufhin eine Anwaltskanzlei mit einer unabhängigen Untersuchung der eigenen Arbeit. Das Ergebnis: Die "FT" hatte nicht mit sogenannten Shortsellern zusammengearbeitet, also Spekulanten, die auf fallende Kurse einer Aktie wetten. Allerdings gab es in dieser Sache auch ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft München gegen die Zeitung. Die Strafanzeige stammte von der deutschen Finanzaufsicht BaFin. Das Verfahren wurde jedoch im Herbst 2020 eingestellt, weil sich keine Beweise dafür finden ließen, dass die betreffenden Reporter Informationen an Dritte weitergegeben hatten.
Im Oktober 2019 beauftragte Wirecard das Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG mit einer außerplanmäßigen Prüfung. Veröffentlicht wurde der Bericht im April 2020. Für Wirecard war damit bewiesen, dass alles in Ordnung war: Beweise für Fehlverhalten wurden nicht gefunden. Dies stellte sich aus der Sicht von Außenstehenden jedoch ganz anders dar: Laut KPMG-Bericht konnten die Prüfer nicht feststellen, ob diverse Umsätze aus Drittpartnergeschäften in den Jahren 2016 bis 2018 überhaupt existierten. Diverse Unterlagen seien gar nicht einsehbar gewesen. Wieder fielen die Aktenkurse.
Im Mai 2020 verschob Wirecard seine Hauptversammlung. Die Jahresbilanz konnte nicht veröffentlicht werden. Die bereits seit zehn Jahren mit der Prüfung der Jahresabschlüsse beauftragte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young erteilte dem Jahresabschluss kein Testat.
Im Juni 2020 fand eine Durchsuchung der Geschäftsräume von Wirecard in Aschheim durch die Staatsanwaltschaft München statt. Der Vorwurf: Die Geschäftsführung habe durch die "ad-Hoc-Mitteilungen" am 12.3.2020 und 22.4.2020 irreführende Signale an die Aktienmärkte gesandt, um den Aktienkurs zu manipulieren.
Am 18.6.2020 gab Wirecard zu, dass 1,9 Milliarden Euro (rund ein Viertel der Konzern-Bilanzsumme) entweder verschwunden seien oder nie existiert hätten. Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young hätten dieses angeblich auf philippinischen Treuhandkonten untergebrachte Geld nicht gefunden. Wirecard sprach von Betrug und sah sich als Opfer. Während der Aktienkurs abstürzte, trat Firmengründer Markus Braun als CEO zurück. Wenig später wurde er verhaftet und dann gegen eine Kaution von 5 Millionen Euro wieder auf freien Fuß gesetzt. Sein Strafprozess beginnt am 8.12.2022. Auch gegen den ehemaligen Vorstand Jan Marsalek erging Haftbefehl. Dieser soll derzeit in Moskau untergetaucht sein.
Bekannt wurde außerdem, dass Wirecard Bankkredite im Wert von zwei Milliarden Euro laufen hatte. Ohne testierten Jahres- und Konzernabschluss bestand hier die Möglichkeit der Kündigung.
Am 25.6.2020 stellte die Wirecard AG beim Amtsgericht München Insolvenzantrag.
Was sind die möglichen Gründe für eine Bilanzmanipulation?
Mögliche Gründe für eine Manipulation können einerseits ein höherer Börsenwert der Aktien, andererseits aber auch die Möglichkeit gewesen sein, in einigen anderen Ländern Lizenzen für Bankgeschäfte zu erhalten. In Deutschland gehörte eine hauseigene Bank zum Konzern, die Zahlungen von Kunden annahm und weitergab. Eine Lizenz für solche Geschäfte ist jedoch nicht selbstverständlich. Sie wird in einigen Ländern nur erteilt, wenn ein gewisses Geschäftsvolumen erreicht wird.
Als Manipulationsmethode kann dabei das sogenannte "round tripping" zur Anwendung kommen. Dabei werden Gelder zwischen verschiedenen Stellen hin- und hergeschoben, um Geschäfte zu simulieren, die in Wahrheit nie stattgefunden haben.
Eine weitere Methode ist die Nutzung ausländischer Partnerfirmen, die in ihren Ländern entsprechende Lizenzen besitzen. Wirecard arbeitete mit vielen solcher "Drittpartner" zusammen. Das Hauptgeschäft in Asien wurde jedoch durch drei Partner erwirtschaftet - einer davon auf den Philippinen. Den Wirtschaftsprüfern zufolge sollen mit den Vertragspartnern oft nur lückenhafte Verträge existiert haben, auf denen zum Teil Unterschriften fehlten.
Welche Ansprüche könnten Geldanleger gegen Wirecard haben?
Anleger können Schadensersatzansprüche aus §§ 97 und 98 des Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG) haben. Diese Ansprüche beziehen sich auf die unterlassene unverzügliche Veröffentlichung von Insiderinformationen und die Veröffentlichung unwahrer Insiderinformationen. Ausgeschlossen sind solche Ansprüche, wenn - im ersten Fall - das Unternehmen beweisen kann, dass die Unterlassung nicht auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beruht oder - im zweiten Fall - dass es die Unrichtigkeit der Insiderinformation nicht gekannt hat und die Unkenntnis nicht auf grober Fahrlässigkeit beruht.
Zum Beispiel hätte das Unternehmen sofort bekannt geben müssen, dass 1,9 Mrd. Euro an Bilanzsumme gar nicht existierten, als es dies selbst erfuhr. Auch frühere Mitteilungen an die Öffentlichkeit - wie die "ad-Hoc-Mitteilungen" vom 12.3.2020 und 22.4.2020 sind vor dem Hintergrund der bekanntgewordenen Missstände kritisch zu prüfen. Der Schadensersatzanspruch kann den Kursverlust der Aktien umfassen, unter Umständen auch den gesamten Investitionswert. Grundsätzlich beruht diese Möglichkeit auf einem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 13.12.2011 (Az. XI ZR 51/10).
Erstes Urteil: Wie hat das Landgericht München zum Schadensersatz für Aktionäre entschieden?
Das Landgericht München I hat jedoch gestern gegen die Aktionäre entschieden. Dabei wurde das Bestehen eines Schadensersatzanspruches an sich gar nicht geprüft. Das Gericht wies die Klage des Anteilseigners Union Investment gegen den Insolvenzverwalter auf 243 Millionen Euro Schadensersatz mit der Begründung ab, dass Anteilseigner nicht als Insolvenzgläubiger gelten und ihre Schadensersatzforderungen daher nicht zur Insolvenztabelle anmelden können. Tatsächlich ist es bisher übliche Praxis, dass Forderungen von Anteilseignern nachrangig hinter denen von kreditgebenden Banken oder Gläubigern von Unternehmensanleihen behandelt werden. Dem Gericht zufolge ist jedenfalls eine Einordnung der Ansprüche von Aktionären als Insolvenzforderung nicht "mit den Grundwerten des Insolvenzrechts vereinbar" (Urteil vom 23.11.2022, Az. 29 O 7754/21).
Der Insolvenzverwalter wird das nun ergangene Urteil zum Anlass nehmen, auch die übrigen bereits bei ihm geltend gemachten Forderungen von Aktionären zurückzuweisen - dabei geht es um 20.000 Anleger mit Gesamtforderungen von sieben Milliarden Euro.
Aber: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, und der Bundesgerichtshof wird hier noch eine grundsätzliche Entscheidung zum Schadensersatz für Anleger zu treffen haben.
Können Anleger auch Ansprüche gegen Ernst & Young geltend machen?
Wenn Anleger Verluste erlitten haben, weil die langjährig mit der Prüfung der Jahresabschlüsse beauftragte Prüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) nicht sorgfältig genug gearbeitet hat, sind auch hier grundsätzlich Ansprüche möglich. Allerdings wird eine genaue Untersuchung erforderlich sein, inwieweit die verwendeten Manipulationen bei dem üblichen Umfang einer solchen Prüfung hätten auffallen müssen. Andererseits fragt es sich, ob nicht angesichts der wiederholten Presseberichte über Wirecard eine genauere Prüfung angezeigt gewesen wäre. Bereits 2016 wurden die ersten Vorwürfe gegen Wirecard bekannt.
Eine mögliche Argumentation könnte auch darin bestehen, dass EY das Testat für den Jahresabschluss der Wirecard-Tochter Wirecard Singapore Pte. Ltd. für 2017 verweigert hatte. Der Grund: Diverse Buchungen und Transaktionen waren nicht durch Unterlagen belegt. Trotzdem wurden 2017 und 2018 Testate für den Konzernabschluss erteilt. Für Anleger erschien das Unternehmen damit als gute Investition.
Grundsätzliche Chancen auf Schadensersatz könnten insbesondere bei Aktien bestehen, die zwischen dem 24.2.2016 und dem 17.6.2020 erworben wurden.
Tatsächlich hat der vom Bundestags-Untersuchungsausschuss eingesetzte Sonderermittler Martin Wambach bei den Wirtschaftsprüfern von EY bereits 2021 in einem Bericht mögliche Verstöße gegen Berufspflichten gesehen. Ein berufsrechtliches Verfahren der Wirtschaftsprüferaufsicht Apas gegen EY und einzelne Prüfer läuft.
Welche Besonderheiten gelten für die Wirecard Bank?
Die Wirecard Bank AG hat zum Ablauf des 9.12.2021 (24.00 Uhr) auf ihre Bankerlaubnis verzichtet. Die Firmenbezeichnung lautet seit Beginn der gesellschaftsrechtlichen Abwicklung am 1.7.2022 (0.00 Uhr) "WDB Abwicklungs AG i.L.". Bankgeschäfte finden nicht mehr statt, das Bestandsgeschäft wird abgewickelt.
Kommt es zu einem Musterverfahren?
Das deutsche Recht ermöglicht in solchen Fällen ein sogenanntes Kapitalanleger-Musterverfahren. In diesem kann sich eine größere Zahl von geprellten Anlegern zusammenschließen. Dabei können Tatsachen- und Rechtsfragen, die sich in mindestens zehn individuellen Schadensersatzprozessen gleichlautend stellen, durch das Oberlandesgericht einheitlich bindend, für alle Kläger entschieden werden.
Eine deutsche Anwaltskanzlei hat im Mai 2020 Antrag auf Einleitung eines solchen Verfahrens gestellt.
Das Landgericht München I hat am 14.3.2022 beschlossen, ein solches Musterverfahren einzuleiten (Az. 3 OH 2767/22 KapMuG), und zwar gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Wirecard AG, Markus Braun und die Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Das Bayerische Oberste Landesgericht wird daraufhin gebündelt für alle Parallelverfahren über die wesentlichen Haftungsfragen zu entscheiden haben.
Update vom 17.02.2023: Entscheidung zu Schadensersatzklage gegen BAFin
Auch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ist im Zuge des Wirecard-Skandals unter Kritik geraten. So wurde sie von Wirecard-Aktionären wegen Versäumnissen bei der Aufsicht und wegen Amtsmissbrauchs auf Schadensersatz für deren Kursverluste verklagt. Dahinter stand die Überlegung, dass es der Aufsichtsbehörde vielleicht hätte auffallen sollen, dass 1,9 Mrd. Euro in der Bilanz nur in der Fantasie der Geschäftsleitung existierten.
Das Oberlandesgericht Frankfurt wies die Klage jedoch ab. Die BAFin sei erst an zweiter Stelle für eine umfassende Prüfung von Wirecard verantwortlich gewesen. Sie habe 2019 eine Prüfung durch die DPR (Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung) veranlasst. Es hätten keine Anhaltspunkte dafür bestanden, diese Prüfung früher zu veranlassen oder selbst durchzuführen. Auch stünde nicht fest, ob der Kläger bei einer früheren Prüfung einen geringeren Schaden durch abstürzende Kurse erlitten hätte. Hinzu komme: Die BAFin sei allein in öffentlichem Interesse tätig. Ihre Arbeit diene nicht dem Schutz der Aktionäre. Ein Amtsmissbrauch im Verhalten der Mitarbeiter der BAFin sei nicht feststellbar.
Bisher sind 500 Verfahren in dieser Sache gegen die BAFin anhängig. Diese haben wohl nun jedoch wenig Chancen auf Erfolg. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Die Zulassung einer Revision kann per Nichtzulassungsbeschwerde begehrt werden (OLG Frankfurt am Main, Hinweisbeschluss vom 28.11.2022, Beschluss vom 6.2.2023, Az. 1 U 173/22).
Update vom 10.10.2024: Hoffnungsschimmer vom Oberlandesgericht München
50.000 Aktionäre von Wirecard hoffen auf eine Entschädigung. Ein Urteil des OLG München macht diese nun etwas wahrscheinlicher. In dem Verfahren der Vermögensverwaltung Union Investment gegen den Insolvenzverwalter von Wirecard hat das Gericht entschieden, dass Aktionäre ihre Forderungen zur Insolvenztabelle anmelden dürfen. Allerdings handelt es sich nur um ein sogenanntes Zwischenurteil, mit dem noch nicht feststeht, ob tatsächlich Schadensersatz gezahlt wird. Der Insolvenzverwalter steht nach wie vor auf dem Standpunkt, dass Schadensersatzforderungen von Aktionären nicht gleichrangig zu behandeln sind mit den Forderungen von Gläubigern und ehemaligen Arbeitnehmern des Unternehmens. Denn: Aktionäre hätten zwar Kursverluste erlitten. Die anderen Gläubiger hätten Leistungen erbracht, für die sie nicht bezahlt worden seien. Ob Aktionäre und andere Gläubiger hier gleich zu behandeln sind, ist auch höchstrichterlich noch nicht entschieden. Voraussichtlich wird sich der Bundesgerichtshof noch mit dem Fall befassen müssen (Urteil vom 23.11.2022, Az. 29 O 7754/21).
Die Aktionäre von Wirecard fordern Schadensersatz in Höhe von 8,5 Milliarden Euro. Die Gläubiger des Unternehmens haben insgesamt Forderungen von 15,4 Milliarden Euro angemeldet. Allerdings liegt der vom Insolvenzverwalter gesicherte Betrag bisher bei nur 650 Millionen Euro. Sehr wahrscheinlich kann also in jedem Fall nur ein kleiner Teil der Forderungen beglichen werden.
Praxistipp zu Wirecard
Haben Sie als Aktionär von Wirecard finanzielle Schäden erlitten, sollten Sie mögliche Schadensersatzansprüche zeitnah prüfen lassen. Hier ist der beste Ansprechpartner ein Fachanwalt für Bankrecht bzw. Kapitalmarktrecht.
(Ma)