BAG, Beschl. 11.5.2023 - 6 AZR 157/22 (A)

Beurteilung der Betriebsgröße i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG

Autor: RAin FAinArbR Dr. Cornelia Marquardt, maat Rechtsanwälte, München
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 10/2023
Für die Ermittlung der „in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer“ in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG kommt es weder auf einen Stichtag noch auf eine Durchschnittsbetrachtung an, sondern nur auf die bei regelmäßigem Geschäftsbetrieb charakteristische Belegschaftsstärke. Diese ist durch Rückblick auf die bisherige Mitarbeiterzahl und deren Einschätzung für die Zukunft zu ermitteln. Dies gilt auch für das schrittweise Vorgehen eines Arbeitgebers im Zusammenhang mit einer Betriebsstilllegung und für Insolvenzfälle.

AEUV Art. 267; EUV Art. 4 Abs. 3; MERL Art. 1 Abs. 1; KSchG § 4 Satz 1, § 17 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3; ZPO §§ 138, 148, 253, 256

Das Problem

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.

Die Arbeitgeberin des Klägers beschäftigte bis September 2020, als über ihr Vermögen die vorläufige Insolvenzverwaltung angeordnet wurde, 25 Mitarbeiter. Der als Insolvenzverwalter eingesetzte Beklagte beendete die noch bestehenden Arbeitsverhältnisse durch Kündigungen bzw. Aufhebungsverträge, die zwischen dem 12.11.2020 und dem 29.12.2020 zugingen bzw. abgeschlossen wurden. Dem Kläger ging die Kündigung am 8.12.2022 zu.

Der Beklagte hatte mit der Begründung, dass bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 1.12.2020 nur noch 19 Arbeitnehmer beschäftigt waren, für diese Kündigung weder eine Sozialauswahl durchgeführt noch eine Massenentlassungsanzeige erstattet.

Das Arbeitsgericht gab der Kündigungsschutzklage statt. Das LAG wies die Berufung des Beklagten zurück. Mit der Revision verfolgt der Beklagte sein Klageabweisungsziel weiter.

Die Entscheidung des Gerichts

Mit seinem Beschluss setzt das BAG das Verfahren analog § 148 ZPO bis zur Entscheidung des EuGH über ein anderweitiges Vorabentscheidungsersuchen (6 AZR 155/21 (A), s. ArbRB 2022, 131 (Braun) – beim EuGH – C-134/22, s. ArbRB 2023, 227 (Esser)) aus. Über die Wirksamkeit der Kündigung könne noch nicht abschließend entschieden werden.

Zwar verstoße die Kündigung wegen der fehlenden Massenentlassungsanzeige gegen § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG. Es sei jedoch abzuwarten, ob eine in Verkennung der personellen Betriebsstärke unterlassene Massenentlassungsanzeige (wie seit 2012 in ständiger Rspr. angenommen) tatsächlich zur Unwirksamkeit der Kündigung führe.

Maßgeblich für die Betriebsgröße sei die Zahl der Arbeitnehmer, die für den gewöhnlichen Ablauf des betreffenden Betriebs kennzeichnend sei. Auch der der deutschen Regelung zugrunde liegende Art. 1 Abs. 1 Buchst. a MERL stelle für die Betriebsgröße auf die „in der Regel“ beschäftigten Arbeitnehmer ab. Damit sei offenkundig, dass es für die Ermittlung der maßgeblichen Beschäftigtenzahl nicht auf einen Stichtag – z.B. Tag der Entlassung oder Eröffnung eines Insolvenzverfahrens – ankomme. Auch der EuGH (EuGH v. 11.11.2015 – C-422/14, ECLI:EU:C:2015:743, ArbRB 2015, 359) sei von einem Betrachtungszeitraum ausgegangen.

Für die Regelanzahl sei auch nicht die durchschnittliche Beschäftigtenzahl eines Zeitraums maßgeblich, sondern die normale Beschäftigtenzahl, d.h. die Personalstärke, die für den Betrieb bei seinem regelmäßigen Gang kennzeichnend sei. Hierzu bedürfe es eines Rückblicks auf den bisherigen Personalbestand und einer Einschätzung der zukünftigen Entwicklung. Im Fall der Stilllegung komme es nur auf den Rückblick an.

Bei einem sukzessiven Vorgehen mit mehreren Entlassungswellen sei der Zeitpunkt maßgeblich, in dem zuletzt eine normale Betriebstätigkeit entfaltet worden sei. Die jeweils reduzierten Belegschaftsstärken könnten aufgrund der vorangegangenen Stilllegungsentscheidung nicht mehr kennzeichnend werden, sondern seien nur noch Stufen der Auflösung des Betriebs.

Dies gelte auch für Insolvenzfälle. Werde der Betrieb nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zeitnah stillgelegt, bestimme sich die Betriebsgröße nach den vor der Eröffnung charakteristischen Umständen. Etwas anderes könne nur gelten, wenn der Insolvenzverwalter während des Insolvenzverfahrens Unternehmerentscheidungen treffe, die Auswirkungen auf den gewöhnlichen Geschäftslauf und die daraus folgende Betriebsstärke haben.


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