BAG, Urt. 27.9.2022 - 2 AZR 92/22

Auflösungsantrag des Arbeitgebers und betriebsverfassungsrechtlicher Sonderkündigungsschutz

Autor: RA FAArbR Dr. Artur Kühnel, VAHLE KÜHNEL BECKER FAeArbR, Hamburg
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 02/2023
Die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses gem. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG bedarf keiner Zustimmung des Betriebsrats gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG i.V.m. § 103 BetrVG. Ein arbeitgeberseitiger Auflösungsantrag kann auch auf während des betriebsverfassungsrechtlichen Sonderkündigungsschutzes entstandene Sachverhalte gestützt werden. Dies gilt selbst dann, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung über den Auflösungsantrag Sonderkündigungsschutz besteht. Die Auflösungsgründe müssen auch dann keinen wichtigen Grund i.S.v. § 626 BGB bilden. Es ist aber zu prüfen, inwiefern diese mit der Amtsausübung im Zusammenhang stehen und deshalb ggf. keinen oder nur bedingten Schluss auf die Prognose über die zukünftige Zusammenarbeit zulassen.

BetrVG § 103; KSchG § 9 Abs. 1 Satz 2, § 15 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1; BGB § 626 Abs. 1

Das Problem

Der Kläger ist Arbeitnehmer der Beklagten.

Nach rechtskräftiger Entscheidung des LAG haben eine außerordentliche fristlose und hilfsweise ordentliche Kündigung seitens der Beklagten vom 19.6.2019 das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst.

Die Parteien streiten noch über einen hilfsweise gestellten Auflösungsantrag der Beklagten, mit dem diese in den Vorinstanzen ebenfalls unterlegen ist. Zu dessen Begründung hat sie u.a. angeführt:
  • zum Teil bereits abgemahnte Pflichtverletzungen des Klägers und
  • das Verhalten des Klägers im Dezember 2020; zu dieser Zeit war der Kläger Bewerber für die Wahl des Betriebsrats.
Mit der Revision verfolgt die Beklagte den Auflösungsantrag weiter.

Die Entscheidung des Gerichts

Das BAG hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das LAG zurückverwiesen.

Der Auflösungsantrag könne auch auf ein Verhalten aus der Zeit gestützt werden, in der der Kläger besonderen Kündigungsschutz als Wahlbewerber genossen habe. § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG i.V.m. § 103 BetrVG sei nicht lex specialis gegenüber § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG.

Zumindest ergänzend könnten auch abgemahnte Vorgänge als Auflösungsgründe herangezogen werden; auch der Zeitablauf allein und die Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte stünden dem nicht entgegen. Die Abmahnung bewirke keinen Verzicht.

Die Auflösung bedürfe zudem keiner Zustimmung des Betriebsrats gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG i.V.m. § 103 BetrVG, wenn der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Entscheidung Betriebsratsmitglied sei. Anders als bei einer Kündigung bestehe hier keine Gefahr einer missbräuchlichen Verwendung.

Die Auflösungsgründe müssten auch dann keinen wichtigen Grund i.S.v. § 626 BGB bilden, wenn sie während des Sonderkündigungsschutzes entstanden seien und der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Entscheidung Sonderkündigungsschutz genieße. Es sei aber zu prüfen, inwiefern die Auflösungsgründe mit der Amtsausübung im Zusammenhang stünden und deshalb ggf. keinen oder nur einen bedingten Schluss auf die Prognose über eine zukünftige Zusammenarbeit zuließen. Ausschließlich betriebsverfassungsrechtliche Vorgänge seien von vornherein nicht geeignet.


Wussten Sie schon?

Werden Sie jetzt Teilnehmer beim Anwalt-Suchservice und Sie greifen jederzeit online auf die Zeitschrift „Arbeits-Rechtsberater“ des renommierten juristischen Fachverlags Dr. Otto Schmidt, Köln, zu.

Die Zeitschrift ist speziell auf Praktiker zugeschnitten. Sie lesen aktuelle Urteilsbesprechungen inklusive speziellem Beraterhinweis sowie Fachaufsätze und Kurzbeiträge zum Thema Arbeitsrecht und zwar 24/7, also wo und wann immer Sie wollen.

Infos zur Teilnahme