BAG, Urt. 30.11.2021 - 9 AZR 143/21
Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen – Mitwirkungsobliegenheiten
Autor: RA FAArbR Dr. Artur Kühnel, VAHLE KÜHNEL BECKER FAeArbR, Hamburg
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 06/2022
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 06/2022
Ist die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers dem Arbeitgeber nicht bekannt und auch nicht offenkundig, verfällt der Anspruch auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen selbst dann mit Ablauf des Urlaubsjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums, wenn der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nicht nachgekommen ist. Es ist dem Arbeitgeber dann unmöglich, den Arbeitnehmer durch seine Mitwirkung in die Lage zu versetzen, den Zusatzurlaub zu realisieren.
SGB IX § 208 Abs. 1 Satz 1; BUrlG § 1, § 3 Abs. 1, § 7 Abs. 1, 2, 3 u. 4
Der Kläger – seit 2014 anerkannt schwerbehindert – war vom 22.8.2016 bis zum 15.2.2019 bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte hatte ihn weder aufgefordert, Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen kann. Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Kläger die Beklagte bereits bei seiner Einstellung oder erst im Januar 2019 über seine Schwerbehinderung informiert hat.
Das LAG hat die Klage auf die Berufung der Beklagten abgewiesen. Der Kläger habe nicht nachweisen können, dass die Beklagte vorher Kenntnis von seiner Schwerbehinderung gehabt habe, so dass sein Anspruch erloschen sei.
Der Anspruch des Klägers auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen sei im geltend gemachten Umfang unabhängig davon entstanden, ob die Beklagte Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers gehabt habe (bis 31.12.2017 gem. § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F.; seit dem 1.1.2018 gem. § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX n.F.). Er sei auch nicht durch Erfüllung erloschen.
Ob der Anspruch des Klägers mit dem Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres aufgrund der Befristung gem. § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG erloschen sei, stehe bisher nicht fest. Voraussetzung hierfür sei die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten seitens des Arbeitgebers. Danach müsse er den Arbeitnehmer auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfalle, wenn er ihn nicht beantrage.
Dies gelte auch für den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen, der grds. das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubs teile, auch wenn er nicht den unionsrechtlichen Vorgaben unterliege. Die Befristung des Zusatzurlaubsanspruchs sei jedoch nicht von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig, wenn es dem Arbeitgeber trotz gebotener Sorgfalt unmöglich gewesen sei, seine Mitwirkungsobliegenheiten zu erfüllen. Dies sei der Fall, wenn der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers habe und diese auch nicht offenkundig sei.
Es stehe bisher nicht fest, dass die Beklagte keine Kenntnis von der Schwerbehinderung des Klägers gehabt habe. Das LAG habe nicht beachtet, dass hierfür die Beklagte die Darlegungs- und Beweislast trage.
Es gelte aber eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast:
SGB IX § 208 Abs. 1 Satz 1; BUrlG § 1, § 3 Abs. 1, § 7 Abs. 1, 2, 3 u. 4
Das Problem
Die Parteien streiten über die Abgeltung von zwölf Tagen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen für die Jahre 2016 bis 2018.Der Kläger – seit 2014 anerkannt schwerbehindert – war vom 22.8.2016 bis zum 15.2.2019 bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte hatte ihn weder aufgefordert, Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen kann. Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Kläger die Beklagte bereits bei seiner Einstellung oder erst im Januar 2019 über seine Schwerbehinderung informiert hat.
Das LAG hat die Klage auf die Berufung der Beklagten abgewiesen. Der Kläger habe nicht nachweisen können, dass die Beklagte vorher Kenntnis von seiner Schwerbehinderung gehabt habe, so dass sein Anspruch erloschen sei.
Die Entscheidung des Gerichts
Das BAG hebt das Urteil auf und verweist die Sache an das LAG zurück.Der Anspruch des Klägers auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen sei im geltend gemachten Umfang unabhängig davon entstanden, ob die Beklagte Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers gehabt habe (bis 31.12.2017 gem. § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F.; seit dem 1.1.2018 gem. § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX n.F.). Er sei auch nicht durch Erfüllung erloschen.
Ob der Anspruch des Klägers mit dem Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres aufgrund der Befristung gem. § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG erloschen sei, stehe bisher nicht fest. Voraussetzung hierfür sei die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten seitens des Arbeitgebers. Danach müsse er den Arbeitnehmer auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfalle, wenn er ihn nicht beantrage.
Dies gelte auch für den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen, der grds. das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubs teile, auch wenn er nicht den unionsrechtlichen Vorgaben unterliege. Die Befristung des Zusatzurlaubsanspruchs sei jedoch nicht von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig, wenn es dem Arbeitgeber trotz gebotener Sorgfalt unmöglich gewesen sei, seine Mitwirkungsobliegenheiten zu erfüllen. Dies sei der Fall, wenn der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers habe und diese auch nicht offenkundig sei.
Es stehe bisher nicht fest, dass die Beklagte keine Kenntnis von der Schwerbehinderung des Klägers gehabt habe. Das LAG habe nicht beachtet, dass hierfür die Beklagte die Darlegungs- und Beweislast trage.
Es gelte aber eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast:
- Berufe sich der Arbeitgeber auf seine Unkenntnis, sei es Sache des Arbeitnehmers, hierzu unter Benennung der ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel konkret vorzutragen (sekundäre Darlegungslast). Ein Vortrag „ins Blaue hinein“ genüge hierfür nicht.
- Trage der Arbeitnehmer nichts oder nicht substantiiert vor, gelte der Sachvortrag des Arbeitgebers nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden.
- Andernfalls müsse der Arbeitgeber seine Unkenntnis darlegen und ggf. beweisen.
- Gelinge es dem Arbeitgeber, den Vortrag des Arbeitnehmers zu entkräften, sei der Beweis der Unkenntnis erbracht.