BAG, Urt. 5.5.2022 - 2 AZR 483/21
Kündigungserklärungsfrist bei der außerordentlichen Kündigung – Unzulässige Rechtsausübung
Autor: RA FAArbR Dr. Patrick Esser, Seitz Rechtsanwälte Steuerberater PartG mbB, Köln
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 10/2022
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 10/2022
Der Arbeitgeber kann sich gem. § 242 BGB nicht auf die Wahrung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB berufen, wenn er es zielgerichtet verhindert hat, dass eine für ihn kündigungsberechtigte Person bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlangte, oder wenn sonst eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass sich die späte Kenntniserlangung einer kündigungsberechtigten Person als unredlich darstellt.
BGB §§ 242, 626 Abs. 2
Im Juli 2018 erhielt der Leiter der „Legal & Compliance Abteilung“ der beklagten Arbeitgeberin Hinweise, die im Oktober 2018 zur Beauftragung einer Kanzlei mit einer unternehmensinternen Untersuchung zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts führten. Die Abteilung legte der Geschäftsführung am 16.9.2019 einen Zwischenbericht vor. Nach einer Stellungnahme des Klägers vom 20.9.2019 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 28.9.2019 zu.
Die Vorinstanzen haben der Kündigungsschutzklage wegen Nichteinhaltung der Kündigungserklärungsfrist stattgegeben. Die Arbeitgeberin verfolgt mit der Revision ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB beginne mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlange. Nach dem in § 242 BGB verankerten Prinzip von Treu und Glauben könne sich ein Arbeitgeber jedoch nicht auf die Wahrung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB berufen, wenn er selbst zielgerichtet verhindert habe, dass eine für ihn kündigungsberechtigte Person bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlange.
Eine solche unzulässige Rechtsausübung setze voraus, dass der Kündigungsberechtigte den Informationsfluss zielgerichtet verhindere oder zumindest in einer mit Treu und Glauben nicht zu vereinbarenden Weise ein den Informationsfluss behinderndes sachwidriges und überflüssiges Organisationsrisiko geschaffen habe.
Darüber hinaus müsse die nicht kündigungsberechtigte Person, die bereits früher Kenntnis erlangt habe, eine so herausgehobene Position und Funktion im Betrieb innehaben, dass sie tatsächlich und rechtlich in der Lage sei, den Sachverhalt so umfassend zu klären, dass der Kündigungsberechtigte allein aufgrund dieses Kenntnisstands und ohne weitere Nachforschungen seine (Kündigungs-)Entscheidung abschließend treffen könne.
BGB §§ 242, 626 Abs. 2
Das Problem
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer fristlosen und einer hilfsweise außerordentlich mit Auslauffrist erklärten Kündigung.Im Juli 2018 erhielt der Leiter der „Legal & Compliance Abteilung“ der beklagten Arbeitgeberin Hinweise, die im Oktober 2018 zur Beauftragung einer Kanzlei mit einer unternehmensinternen Untersuchung zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts führten. Die Abteilung legte der Geschäftsführung am 16.9.2019 einen Zwischenbericht vor. Nach einer Stellungnahme des Klägers vom 20.9.2019 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 28.9.2019 zu.
Die Vorinstanzen haben der Kündigungsschutzklage wegen Nichteinhaltung der Kündigungserklärungsfrist stattgegeben. Die Arbeitgeberin verfolgt mit der Revision ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Die Entscheidung des Gerichts
Das BAG hebt das Urteil des LAG auf und verweist die Sache zurück. Das LAG habe die fristlose Kündigung zu Unrecht für rechtsunwirksam gehalten, weil sie nicht innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB erklärt worden sei; vielmehr habe die Beklagte die Erklärungsfrist gewahrt.Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB beginne mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlange. Nach dem in § 242 BGB verankerten Prinzip von Treu und Glauben könne sich ein Arbeitgeber jedoch nicht auf die Wahrung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB berufen, wenn er selbst zielgerichtet verhindert habe, dass eine für ihn kündigungsberechtigte Person bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlange.
Eine solche unzulässige Rechtsausübung setze voraus, dass der Kündigungsberechtigte den Informationsfluss zielgerichtet verhindere oder zumindest in einer mit Treu und Glauben nicht zu vereinbarenden Weise ein den Informationsfluss behinderndes sachwidriges und überflüssiges Organisationsrisiko geschaffen habe.
Darüber hinaus müsse die nicht kündigungsberechtigte Person, die bereits früher Kenntnis erlangt habe, eine so herausgehobene Position und Funktion im Betrieb innehaben, dass sie tatsächlich und rechtlich in der Lage sei, den Sachverhalt so umfassend zu klären, dass der Kündigungsberechtigte allein aufgrund dieses Kenntnisstands und ohne weitere Nachforschungen seine (Kündigungs-)Entscheidung abschließend treffen könne.