BAG, Vorlagebeschl. 14.12.2023 - 6 AZR 157/22 (B)
Massenentlassung – Änderung der Rechtsprechung zu Fehlern im Anzeigeverfahren?
Autor: RAin FAinArbR Dr. Cornelia Marquardt, maat Rechtsanwälte, München
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 02/2024
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 02/2024
Das Fehlen einer Massenentlassungsanzeige darf nach Ansicht des 6. Senats nicht zur Nichtigkeit der nachfolgenden Kündigungen führen. Da dies aber einer früheren Entscheidung des 2. Senats des BAG widerspräche, fragt der 6. beim 2. Senat an, ob er an seiner Rechtsauffassung festhält, dass eine Kündigung unwirksam ist, wenn bei ihrer Erklärung keine wirksame Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt.
AEUV Art. 267; EUV Art. 4 Abs. 3; RL 98/59/EG (MERL) Art. 1 Abs. 1; KSchG § 4 Satz 1, § 17 Abs. 1 Satz 1 u. 3; ZPO §§ 138, 148, 253, 256
Durch § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG solle aber nicht der Erfolg einer Kündigung infrage gestellt werden. Vielmehr habe der Arbeitgeber im Anzeigeverfahren lediglich außerhalb des Arbeitsverhältnisses stehende administrativ-prozedurale Pflichten zu erfüllen. Auch wenn das Anzeigeverfahren vor Zugang der Kündigung eingeleitet werden müsse, diene es nicht ihrer Verhinderung. Die Arbeitsverwaltung solle die Willensbildung des Arbeitgebers nicht beeinflussen, sondern sich nur auf den Eintritt einer größeren Zahl von Arbeitnehmern in den örtlichen Arbeitsmarkt einstellen können. Daraus folge zugleich, dass die Anzeigepflicht nicht dem Schutz des einzelnen Arbeitnehmers diene, der von einer Massenentlassung betroffenen sei.
§ 134 BGB enthalte zudem nur eine Auslegungsregel. Zu prüfen sei, ob das jeweilige Verbotsgesetz einen Verstoß ausnahmslos durch die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts sanktionieren wolle oder eine andere Sanktion genüge. § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG habe eine reine Ordnungsfunktion. Ein Verstoß hiergegen gebiete deshalb nicht die Nichtigkeit der Kündigung, sondern nur eine arbeitsförderungsrechtliche Sanktion. Die Nichtigkeitsfolge ergebe sich auch nicht aus § 18 Abs. 1 KSchG, da es sich bei der Entlassungssperre nicht um einen Genehmigungsvorbehalt handle.
Insgesamt stünden die durch die Nichtigkeit der Kündigung bewirkten Nachteile für die betroffenen Arbeitgeber in keinem angemessenen Verhältnis zu den dadurch erlangten Vorteilen bei den mit der Anzeigepflicht verfolgten arbeitsmarktpolitischen Zielen. Die Nichtigkeitsfolge sei deshalb unverhältnismäßig.
AEUV Art. 267; EUV Art. 4 Abs. 3; RL 98/59/EG (MERL) Art. 1 Abs. 1; KSchG § 4 Satz 1, § 17 Abs. 1 Satz 1 u. 3; ZPO §§ 138, 148, 253, 256
Das Problem
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung, in deren Vorfeld der Arbeitgeber die eigentlich erforderliche Massenentlassungsanzeige unterlassen hat. Das BAG hatte das Verfahren zunächst ausgesetzt (BAG, Beschl. v. 11.5.2023 – 6 AZR 157/22 (A), ArbRB 2023, 291 [Marquardt]). Nach der Entscheidung des EuGH, dass die Pflicht des Arbeitgebers zur Übermittlung bestimmter Informationen an die Agentur für Arbeit im Rahmen der Massenentlassungsanzeige den betroffenen Arbeitnehmern keinen Individualschutz gewährt, sondern nur der Information der Behörde dient (EuGH, Urt. v. 13.7.2023 – C-134/22, ArbRB 2023, 227 [Esser]), steht das Verfahren nun zur abschließenden Entscheidung an.Die Entscheidung des Gerichts
Der 6. Senat fragt beim 2. Senat an, ob dieser an seiner Rechtsauffassung zur Nichtigkeitsfolge von Fehlern im Anzeigeverfahren (BAG, Urt. v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, BAGE 144, 47 = MDR 2013, 797 = ArbRB 2013, 137 [Suberg]) festhält. Sanktion für das Fehlen einer Massenentlassungszeige oder andere Fehler im Anzeigeverfahren könne nach neuer Auffassung des 6. Senats nicht die Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB sein. § 17 KSchG setze die Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG – MERL) um, enthalte aber wie die MERL selbst keine ausdrücklichen Sanktionsregelungen. Der 2. Senat nehme gleichwohl an, dass § 17 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 KSchG ein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB sei, so dass das Fehlen einer wirksamen Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der Kündigung führe.Durch § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG solle aber nicht der Erfolg einer Kündigung infrage gestellt werden. Vielmehr habe der Arbeitgeber im Anzeigeverfahren lediglich außerhalb des Arbeitsverhältnisses stehende administrativ-prozedurale Pflichten zu erfüllen. Auch wenn das Anzeigeverfahren vor Zugang der Kündigung eingeleitet werden müsse, diene es nicht ihrer Verhinderung. Die Arbeitsverwaltung solle die Willensbildung des Arbeitgebers nicht beeinflussen, sondern sich nur auf den Eintritt einer größeren Zahl von Arbeitnehmern in den örtlichen Arbeitsmarkt einstellen können. Daraus folge zugleich, dass die Anzeigepflicht nicht dem Schutz des einzelnen Arbeitnehmers diene, der von einer Massenentlassung betroffenen sei.
§ 134 BGB enthalte zudem nur eine Auslegungsregel. Zu prüfen sei, ob das jeweilige Verbotsgesetz einen Verstoß ausnahmslos durch die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts sanktionieren wolle oder eine andere Sanktion genüge. § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG habe eine reine Ordnungsfunktion. Ein Verstoß hiergegen gebiete deshalb nicht die Nichtigkeit der Kündigung, sondern nur eine arbeitsförderungsrechtliche Sanktion. Die Nichtigkeitsfolge ergebe sich auch nicht aus § 18 Abs. 1 KSchG, da es sich bei der Entlassungssperre nicht um einen Genehmigungsvorbehalt handle.
Insgesamt stünden die durch die Nichtigkeit der Kündigung bewirkten Nachteile für die betroffenen Arbeitgeber in keinem angemessenen Verhältnis zu den dadurch erlangten Vorteilen bei den mit der Anzeigepflicht verfolgten arbeitsmarktpolitischen Zielen. Die Nichtigkeitsfolge sei deshalb unverhältnismäßig.