BAG, Vorlagebeschl. 1.2.2024 - 2 AS 22/23 (A)
Massenentlassungen: Rechtsfolge von Fehlern im Anzeigeverfahren – Insgesamt oder nur teilweise kein Individualschutz?
Autor: RA FAArbR Dr. Sascha Schewiola, Heuking Kühn Lüer Wojtek, Köln
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 03/2024
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 03/2024
Nach der Divergenzanfrage des 6. Senats (BAG, Vorlagebeschl. v. 14.12.2023 – 6 AZR 157/22 (B), ArbRB 2024, 34 [Marquardt]) legt der 2. Senat des BAG dem EuGH verschiedene Fragen zu den Rechtsfolgen einer unterlassenen oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige vor.
AEUV Art. 267; RL 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie – MERL) Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 bis 3, Art. 6; KSchG § 4 Satz 1, § 17 Abs. 1 Satz 1 und 3, § 18
An diesem Grundsatz wird aktuell kräftig gerüttelt. Warum?
Zunächst hatte der EuGH entschieden, dass die Pflicht des Arbeitgebers zur Übermittlung bestimmter Informationen an die Agentur für Arbeit im Rahmen einer Massenentlassungsanzeige den betroffenen Arbeitnehmern keinen Individualschutz gewährt (EuGH, Urt. v. 13.7.2023 – C-134/22, ArbRB 2023, 227 [Esser]).
Dies hat sodann der 6. Senat des BAG, der den EuGH angerufen hatte, zum Anlass genommen, dem 2. Senat des BAG nach § 45 ArbGG die Frage vorzulegen, ob dieser an der von ihm ebenfalls vertretenen Nichtigkeitsfolge bei Kündigungen festhalte. Der 6. Senat geht inzwischen nämlich davon aus, die Massenentlassungsanzeige als solche gewähre ebenfalls keinen Individualschutz für den Arbeitnehmer. Daher habe die unterlassene Anzeige keinen Einfluss auf die Wirksamkeit einer Kündigung. Gleiches gelte bei Fehlern in einer Anzeige.
Den Vorlagebeschluss des 6. Senats nimmt nun der 2. Senat zum Anlass für eine erneute Vorlage zum EuGH nach Art. 267 AEUV.
(1) Unterlässt der Arbeitgeber die Erstattung einer Massenentlassungsanzeige, bleibt die Kündigung gem. § 134 BGB (erst einmal) unwirksam.
(2) Der Arbeitgeber kann jedoch die Massenentlassungsanzeige nachholen. Holt er sie (ordnungsgemäß) nach, wirkt die Kündigung auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist. Frühestens endet jedoch das Arbeitsverhältnis mit Ablauf der einmonatigen Entlassungssperre gem. § 18 Abs. 1 KSchG. Es bedarf in diesem Fall also keiner Folgekündigung.
(3) Erstattet ein Arbeitgeber eine Massenentlassungsanzeige, ist diese jedoch fehlerhaft, beginnt die einmonatige Frist der Entlassungssperre nach § 18 Abs. 1 KSchG nicht zu laufen. Solange diese nicht läuft, kann das Arbeitsverhältnis nicht wirksam beendet werden. Der Arbeitgeber kann jedoch die Fehler bei der Massenentlassungsanzeige nachträglich gegenüber der Arbeitsagentur beheben. Die Frist stellt also eine Mindestkündigungsfrist dar. Mit der ordnungsgemäßen Anzeige beginnt die einmonatige Entlassungssperre zu laufen.
AEUV Art. 267; RL 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie – MERL) Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 bis 3, Art. 6; KSchG § 4 Satz 1, § 17 Abs. 1 Satz 1 und 3, § 18
Das Problem
Eine unterlassene oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige zieht die Nichtigkeit einer dem Arbeitnehmer gegenüber ausgesprochenen Kündigung nach § 134 BGB nach sich.An diesem Grundsatz wird aktuell kräftig gerüttelt. Warum?
Zunächst hatte der EuGH entschieden, dass die Pflicht des Arbeitgebers zur Übermittlung bestimmter Informationen an die Agentur für Arbeit im Rahmen einer Massenentlassungsanzeige den betroffenen Arbeitnehmern keinen Individualschutz gewährt (EuGH, Urt. v. 13.7.2023 – C-134/22, ArbRB 2023, 227 [Esser]).
Dies hat sodann der 6. Senat des BAG, der den EuGH angerufen hatte, zum Anlass genommen, dem 2. Senat des BAG nach § 45 ArbGG die Frage vorzulegen, ob dieser an der von ihm ebenfalls vertretenen Nichtigkeitsfolge bei Kündigungen festhalte. Der 6. Senat geht inzwischen nämlich davon aus, die Massenentlassungsanzeige als solche gewähre ebenfalls keinen Individualschutz für den Arbeitnehmer. Daher habe die unterlassene Anzeige keinen Einfluss auf die Wirksamkeit einer Kündigung. Gleiches gelte bei Fehlern in einer Anzeige.
Den Vorlagebeschluss des 6. Senats nimmt nun der 2. Senat zum Anlass für eine erneute Vorlage zum EuGH nach Art. 267 AEUV.
Die Entscheidung des Gerichts
Der 2. Senat vertritt eine andere und etwas differenziertere Auffassung als der 6. Senat. Hierzu legt er dem EuGH mehrere Vorlagefragen vor. Sein Ansatz kann im Kern wie folgt zusammengefasst werden:(1) Unterlässt der Arbeitgeber die Erstattung einer Massenentlassungsanzeige, bleibt die Kündigung gem. § 134 BGB (erst einmal) unwirksam.
(2) Der Arbeitgeber kann jedoch die Massenentlassungsanzeige nachholen. Holt er sie (ordnungsgemäß) nach, wirkt die Kündigung auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist. Frühestens endet jedoch das Arbeitsverhältnis mit Ablauf der einmonatigen Entlassungssperre gem. § 18 Abs. 1 KSchG. Es bedarf in diesem Fall also keiner Folgekündigung.
(3) Erstattet ein Arbeitgeber eine Massenentlassungsanzeige, ist diese jedoch fehlerhaft, beginnt die einmonatige Frist der Entlassungssperre nach § 18 Abs. 1 KSchG nicht zu laufen. Solange diese nicht läuft, kann das Arbeitsverhältnis nicht wirksam beendet werden. Der Arbeitgeber kann jedoch die Fehler bei der Massenentlassungsanzeige nachträglich gegenüber der Arbeitsagentur beheben. Die Frist stellt also eine Mindestkündigungsfrist dar. Mit der ordnungsgemäßen Anzeige beginnt die einmonatige Entlassungssperre zu laufen.