BGH, Urt. 10.4.2024 - VIII ZR 114/22

Kündigung: Härtefallprüfung bei angedrohtem Suizid

Autor: Dr. Olaf Riecke, Hamburg
Aus: Miet-Rechtsberater, Heft 08/2024
Zu den Anforderungen an die gerichtliche Prüfung des Vorliegens einer nicht zu rechtfertigenden Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 S. 1 BGB bei der ernsthaften Gefahr eines Suizids des Mieters im Falle einer Verurteilung zur Räumung der Wohnung (im Anschluss an BGH v. 26.10.2022 – VIII ZR 390/21).

BGB § 574 Abs. 1 Satz 1, § 574a

Das Problem

Der Vermieter/Kläger erklärte mit Schreiben vom 24.10.2019 die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses zum 31.7.2020 wegen Eigenbedarfs. Die Mieter/Beklagten widersprachen der Kündigung fristgemäß. Zur Begründung führten sie u.a. aus, die Kündigung stelle für sie eine besondere Härte dar, weil ein Umzug aufgrund ihrer gesundheitlichen sowie finanziellen Situation „schlicht unmöglich“ sei.

Entscheidungserheblich ist insbesondere die Frage, ob wegen der von den Beklagten für den Fall des unfreiwilligen Verlusts der Wohnung bekundeten Suizidabsicht ein Härtegrund i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB gegeben ist.

Die Entscheidung des Gerichts

Die Suizidankündigungen waren – in Übereinstimmung mit dem Gutachten – als ernsthaft zu bewerten. Beide Beklagten hatten nämlich bereits einen konkreten Plan entwickelt und Vorbereitungen in Form einer Ansammlung von Medikamenten getroffen.

Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) gewährt nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in diese Rechtsgüter. Der Staat hat sogar die Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen (BVerfG v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15, BVerfGE 142, 313 Rz. 67 ff.; BVerfGE 158, 131 Rz. 64; BGH v. 8.11.2023 – XII ZB 459/22, MDR 2024, 111 = FamRZ 2024, 213 Rz. 44). Bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Lebensgefahr sind die Gerichte deshalb verfassungsrechtlich gehalten, ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen, Beweisangeboten besonders sorgfältig nachzugehen und den hieraus resultierenden Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen (u.a. BGH v. 9.11.2016 – VIII ZR 73/16, MietRB 2017, 34 [Zich] = MDR 2017, 20, NZM 2017, 26 Rz. 22; BGH v. 15.3.2017 – VIII ZR 270/15, MietRB 2017, 153 [Wichert] = MDR 2017, 635 = NZM 2017, 286 Rz. 28; BVerfG, NZM 2024, 187 Rz. 8 [zur Handhabung des Verfahrensrechts]). Eine Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 S. 1 BGB wurde beim Bestehen der (sehr) hohen Gefahr eines Suizids des Mieters für den Fall des Erlasses eines Räumungsurteils angenommen (vgl. BGH v. 26.10.2022 – VIII ZR 390/21, MietRB 2023, 1 [Burbulla] = MDR 2023, 24 = NZM 2023, 35 Rz. 24, 30). Es darf nicht allein auf die hinter der Suizidandrohung stehende freie Willensbildung der Mieter abgestellt werden. Dies ändert nichts daran, dass das Leben der Mieter bei einem unfreiwilligen Verlust ihrer Wohnung infolge einer Verurteilung zur Räumung konkret in Gefahr ist und diese Gefahr bei der hier vorzunehmenden Prüfung des Vorliegens einer Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB Berücksichtigung finden muss (vgl. auch BVerfG v. 16.8.2001 – 1 BvR 1002/01, NJW-RR 2001, 1523, 1524). Überdies ist hinreichend in den Blick zu nehmen, dass die Suizidankündigung auch Ausdruck der von den Mietern empfundenen Hilflosigkeit gegenüber dem drohenden Verlust ihrer langjährigen Wohnung ist. Gerade hierin zeigt sich aber die Schutzbedürftigkeit der Beklagten, der im Rahmen des § 574 BGB angemessen Rechnung zu tragen ist.

Es ist aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Einzelfallumstände zu entscheiden, ob wegen der bestehenden – und trotz der freien Willensbildung der Beklagten für die Prüfung nach § 574 Abs. 1 S. 1 BGB maßgeblich zu berücksichtigenden – Gefahr eines Suizids für den Fall des Verlusts ihrer bisherigen Wohnung das Vorliegen einer Härte anzunehmen ist oder ob eine solche im Hinblick auf den Mietern zugängliche und zumutbare, von ihnen aber nicht genutzte Beratungen sowie ärztliche oder therapeutische Behandlungen abzulehnen (oder anderenfalls jedenfalls im Rahmen der anschließend vorzunehmenden Interessenabwägung den Interessen des Vermieters der Vorrang einzuräumen) ist (vgl. BGH v. 26.10.2022 – VIII ZR 390/21, MietRB 2023, 1 [Burbulla] = MDR 2023, 24 = NZM 2023, 35 Rz. 29).

Im Streitfall sind die psychischen Beschwerden der Mieter behandelbar. Den Mietern ist Gelegenheit zu geben, zu ihrer aktuellen gesundheitlichen Situation und zu einer möglicherweise in der Zwischenzeit bereits erfolgten Inanspruchnahme psychiatrischer oder psychologischer Unterstützung, Beratung oder Behandlung vorzutragen.

Selbst bei Annahme einer Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 S. 1 BGB ist zu bedenken, dass die Fortsetzung – im Regelfall – nur auf bestimmte Zeit erfolgen soll. Im Rahmen einer mit Tatsachen zu untermauernden Prognose – abhängig von der aktuell gegebenen Gesundheitsgefährdung und der Einschätzung des Sachverständigen zu deren Schwere und zu den Möglichkeiten einer Milderung durch begleitende Maßnahmen – ist zu beurteilen, für welchen Zeitraum im Falle einer entsprechenden Mitwirkung der Mieter das einer Verurteilung zur Räumung entgegenstehende Hindernis voraussichtlich fortdauern wird. Dabei ist jedes den Mietern zumutbare Bemühen um eine Verringerung der Suizidgefahr zu berücksichtigen. Aber auch dann, wenn ungewiss bleiben sollte, innerhalb welchen zeitlichen Rahmens der Härtegrund mit Hilfe von begleitenden Maßnahmen voraussichtlich wird überwunden werden können, muss das Gericht nicht zwingend die Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit anordnen (vgl. BGH v. 22.5.2019 – VIII ZR 180/18, Rz. 69, MietRB 2019, 225, 226, 227 u. 228 [Monschau] = MDR 2019, 858).


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