BGH, Urt. 2.6.2022 - I ZR 93/21

Zur Irreführung der Bewerbung einer Kindermilch mit der Aussage „7 x mehr Vitamin D“; Verbindung mehrerer Verletzungsformen mit „und/oder“-Unterlassungsantrag

Autor: RAin Dr. Claudia Böhm, Fachanwältin für Gewerblichen Rechtsschutz von BOETTICHER Rechtsanwälte, München
Aus: IP-Rechtsberater, Heft 10/2022
Die Ermittlung des Verständnisses des angesprochenen Verkehrs von einer in ihrer konkreten Verletzungsform als irreführend angegriffenen Angabe darf nicht bei der bloßen Feststellung der Bedeutung ihres Wortlautes stehenbleiben. Es sind die Gesamtumstände der Werbung zu berücksichtigen, in der sich die angegriffene Angabe befindet. Erweist sich nur eine von zwei im Klageantrag mit „und/oder“ verbundenen Angaben als unzulässig, führt dies nicht zur Gesamtabweisung des Unterlassungsantrags, sondern rechtfertigt nur eine teilweise Abweisung.

UWG §§ 3a, 5 Abs. 1; Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 Art. 3 Unterabs. 2 Buchst. a und d; ZPO § 286 Abs. 1

Das Problem

Der Kläger, Verbraucherzentrale Bundesverband, hatte gegen das beklagte Lebensmittelunternehmen, das „Kindermilch“-Produkte für Kinder ab 1 und ab 2 Jahren vertreibt, ein Unterlassungsurteil erwirkt (LG München I, Urt. v. 5.6.2020 – 39 O 15946/19). Mit diesem waren der Beklagten verschiedene Angaben für ein als „Kindermilch“ bezeichnetes Produkt, die Gegenstand eigenständiger Klageanträge waren, jeweils „wie geschehen“ in einem Werbespot bzw. auf Produktverpackungen, wegen Irreführung verboten worden. Die Klageanträge waren jeweils mit „und/oder“ verknüpft. So lautete der Klageantrag zu Ziff. I. 1., es der Beklagten unter Androhung näher bezeichneter Ordnungsmittel zu verbieten, „im Rahmen geschäftlicher Handlungen für die Produkte „H. Kindermilch COMBIOTIK ab 1+ Jahr“ und „H. Kindermilch COMBIOTIK ab 2+ Jahr“ mit den Angaben zu werben bzw. werben zu lassen: 1. „7 x mehr brauchst Du als ich, wirst groß, gesund – ganz sicherlich“ und/oder „7 x mehr Vitamin D, starke Knochen bis zum Zeh“, sofern dies geschieht wie in Anlage K1 wiedergegeben...“ Die zitierten Werbeangaben entstammen einem auf der Webseite der Beklagten abrufbaren Werbespot, abgebildet in der Anlage K1 wie folgt:

Beim Anklicken des dort farblich hervorgehobenen Kästchens (unter der Produktabbildung) öffnete sich eine Seite, auf der sich die Erläuterung befand: „Kleinkinder benötigen bis zu 3 x mehr Calcium und sogar 7 x mehr Vitamin D als Erwachsene pro kg Körpergewicht“. Mit den Klageanträgen zu I. 2. und I. 3. sollten weitere Aussagen auf der Webseite und der Produktverpackung untersagt werden.

Das Oberlandesgericht hob die vom Landgericht ausgesprochenen Verbote wieder auf und wies die Klage insgesamt ab (OLG München, Urt. v. 27.5.2021 – 29 U 3902/20). Aufgrund der Verknüpfung der mit dem Klageantrag zu I. 1. angegriffenen Aussagen mit „und/oder“ könne das vom Landgericht antragsgemäß ausgesprochene Verbot nur dann Bestand haben, wenn jede der beiden Aussagen für sich genommen irreführend i.S.d. Art. 3 Unterabs. 2 Buchst. a VO (EG) Nr. 1924/2006 sei, was nicht der Fall sei. Insbesondere lägen keine falschen, mehrdeutigen oder irreführenden Angaben gem. Art. 3 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel vor. Das vom Kläger behauptete Verkehrsverständnis, wonach die von einem Kind benötigte Menge an Vitamin D absolut sieben Mal höher sei als bei einem Erwachsenen und das so konzipierte Produkt deshalb besonders werthaltig sei, lasse sich den „isoliert und nur auf Anlage K1 bezogenen Äußerungen“ nicht entnehmen. Die Aussage „7 x mehr brauchst du als ich, wirst groß, gesund – ganz sicherlich“ lasse nicht erkennen, wer von was sieben Mal mehr brauche als wer, um ganz sicherlich groß und stark zu werden. Die Aussage „7 x mehr Vitamin D, starke Knochen bis zum Zeh“, erwähne nichts von einem Vitamin D-Bedarf und auch nichts von Kindern einerseits und Erwachsenen andererseits. Zudem liege auch kein Verstoß gegen § 5 Abs. 1 UWG vor. Eine Verurteilung wegen Irreführung dürfe auch nur auf diejenigen Gesichtspunkte gestützt werden, die der Kläger schlüssig vorgetragen habe.

Die Entscheidung des Gerichts

Der BGH hebt das Urteil des Oberlandesgerichts insgesamt auf und weist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgerichtzurück. Im Ausgangspunkt zutreffend habe das Oberlandesgerichtangenommen, dass eine Irreführung anzunehmen ist, wenn das Verständnis, das eine Angabe bei den Verkehrskreisen erweckt, an die sich diese richtet, mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht übereinstimmt. Die Ermittlung der Verkehrsauffassung unterliege nur einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung dahingehend, ob das Berufungsgericht den Tatsachenstoff verfahrensfehlerfrei ausgeschöpft hat und die Beurteilung mit den Denkgesetzen und den allgemeinen Erfahrungssätzen in Einklang steht. Zu den mit dem Klageantrag zu Ziff. I. 1. verfolgten Angaben, die im Klageantrag mit „und/oder“ verknüpft waren, habe das Oberlandesgerichtdas Verkehrsverständnis von der angegriffenen Werbung, das für die Feststellung einer Irreführung maßgeblich ist, fehlerhaft ermittelt, indem es sich ausschließlich mit dem Wortlaut der mit dem Klageantrag beanstandeten Aussagen befasst und die übrigen Merkmale der Werbung nicht berücksichtigt habe. Gegenstand des geltend gemachten Unterlassungsanspruchs sei die konkrete Verletzungsform. Nehme ein Klageantrag durch den Vergleichspartikel „wie geschehen“ oder den Konditionalsatz „wenn/sofern dies geschieht wie...“ unmittelbar auf die beanstandete Anzeige Bezug, deute dies darauf hin, dass eine konkrete Werbung untersagt werden soll, die neben den im Antrag beschriebenen Merkmalen noch eine Reihe weiterer Eigenschaften aufweist. Für die Feststellung des Verständnisses des angesprochenen Verkehrs von einer in dieser Weise im Klageantrag in Bezug genommenen Werbung und eine etwaige darin getroffene Werbeaussage sei der Gesamteindruck der Werbung zu würdigen und nicht lediglich auf einzelne Elemente derselben abzustellen. Das Oberlandesgerichthabe sich zu Unrecht darauf beschränkt, den Wortlaut der im Klageantrag wiedergegebenen Aussagen zu betrachten und sei auf die weiteren Elemente der wie aus der Anlage zum Klageantrag ersichtlichen Werbung nicht eingegangen. Es habe sich beispielsweise nicht damit befasst, dass die angegriffenen Werbeaussagen jeweils unmittelbar über einer Abbildung der beiden damit beworbenen Kindermilch-Erzeugnisse platziert sind. Das Oberlandesgerichthabe zwar zutreffend ausgeführt, dass das Gericht eine Verurteilung nur auf diejenigen Irreführungsgesichtspunkte stützen darf, die der Kläger schlüssig vorgetragen hat; der Kläger habe allerdings in seinem Vorbringen und in seinen Klageanträgen ausdrücklich auf die als Anlage vorgelegte konkrete Werbeanzeige und nicht allein auf die darin getroffenen Aussagen Bezug genommen, woraus sich hinreichend deutlich ergebe, dass der Kläger die Werbung in der Anlage in ihrer Gesamtheit angreifen möchte und die Irreführung nicht lediglich auf einzelne Elemente derselben stützt. Die Entscheidung des Oberlandesgerichtsberuhe deshalb – wenn dieses nicht unzutreffend angenommen haben sollte, dass es in Fällen wie dem vorliegenden zur Ermittlung des Verkehrsverständnisses allein auf den Wortlaut der im Unterlassungsantrag aufgeführten Angaben ankomme – auf einer unvollständigen Würdigung des Tatsachenstoffs, weil das Gericht unter Außerachtlassung von § 286 ZPO nicht alle maßgeblichen Umstände in seine Erwägungen einbezogen habe.

Greife ein Kläger verschiedene Angaben in einer Werbung an und nehme diese verbunden mit „und/oder“ in den Unterlassungsantrag auf, werde durch diese Verbindung in der Regel deutlich gemacht, dass die einzelnen Angaben nicht nur in ihrer Kombination zur Überprüfung gestellt werden, sondern auch jede für sich. Ein Klageantrag, in dem mehrere Verletzungsformen durch die Formulierung „und/oder“ miteinander verknüpft sind, sei demgemäß dann in vollem Umfang begründet, wenn hinsichtlich aller beanstandeter Verletzungsformen ein Unterlassungsanspruch bestehe; das Bestehen eines Unterlassungsanspruchs nur in Bezug auf eine der miteinander verbundenen Verletzungsformen rechtfertige nicht die Abweisung des gesamten Unterlassungsantrags, sondern nur eine teilweise Abweisung.

Auch hinsichtlich der vom Oberlandesgericht München zurückgewiesenen Klageanträge zu I. 2. und I. 3. fand der Bundesgerichtshof jeweils Begründungsmängel im Urteil, so dass dieses auch insoweit keinen Bestand haben konnte.


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