BGH, Urt. 30.4.2020 - I ZR 139/15

Keine urheberrechtliche Geheimhaltung bei Tagesereignisberichterstattung – Afghanistan Papiere II

Autor: RA Markus Rössel, LL.M. (Informationsrecht), Köln
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 10/2020
Im Rahmen der gem. § 50 UrhG vorzunehmenden Grundrechtsabwägung ist bei der Erstveröffentlichung nur das urheberrechtsspezifische Geheimhaltungsinteresse und nicht auch das zum Schutz des Staats und seiner Einrichtungen zu berücksichtigen.

GG Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2, 14 Abs. 1; UrhG §§ 50, 63 Abs. 1 und 2 Satz 1; RL 2001/29/EG Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2, Abs. 5

Das Problem

Der militärische Lagebericht über die Auslandseinsätze der Bundeswehr gem. § 6 Abs. 1 ParlBG wird unter der Bezeichnung „Unterrichtung des Parlaments (UdP)“ mit niedrigster Geheimhaltungsstufe „Verschlusssache“ gem. § 4 Abs. 2 SÜG an ausgewählte Bundestagsabgeordnete und Bundesministerien übersandt. Der Antrag eines Zeitungsverlags auf Einsichtnahme wurde wegen der Möglichkeit nachteiliger Auswirkungen auf sicherheitsempfindliche Belange gem. § 3 Nr. 1 Buchst. b IFG abgelehnt und auf die gekürzten Fassungen als „Unterrichtung der Öffentlichkeit (UdÖ)“ verwiesen. Er veröffentlichte dann von Abgeordneten oder Bundesbediensteten anonym zugespielte UdP der Jahre 2005 bis 2012 als „Afghanistan-Papiere“ im Internet.

Die Entscheidung des Gerichts

Der von der Bundesrepublik geltend gemachte Unterlassungsanspruch sei gem. § 50 UrhG unbegründet.

Schutzschranke: Nach § 50 UrhG sei zur Berichterstattung über Tagesereignisse insb. durch Zeitungen, die im Wesentlichen Tagesinteressen Rechnung trügen, die Vervielfältigung und öffentliche Wiedergabe von Werken, die im Verlauf dieser Ereignisse wahrnehmbar würden, in einem durch den Zweck gebotenen Umfang zulässig.

Berichterstattung: Unter einer Berichterstattung i.S.d. § 50 UrhG zugrunde liegenden Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 RL 2001/29/EG sei eine Handlung zu verstehen, mit der Informationen über ein Tagesereignis bereitgestellt würden. Die bloße Ankündigung stelle noch keine Berichterstattung dar; eine eingehende journalistische Analyse des Ereignisses sei jedoch nicht erforderlich (EuGH v. 29.7.2019 – C-516/17 – Spiegel Online, Rz. 66, CR 2020, 107). Insofern sei es vorliegend gem. § 50 UrhG ausreichend gewesen, die UdP in systematisierter Form zum Abruf bereitzuhalten. Zudem seien sie mit einem Einleitungstext, weiterführenden Links und einer Einladung zur interaktiven Partizipation versehen.

Tagesereignis: Unter einem Tagesereignis sei jedes zur Zeit des Eingriffs in das Urheberrecht aktuelle Geschehen zu verstehen, das für die Öffentlichkeit von Interesse sei, wobei ein Geschehen so lange aktuell sei, wie ein Bericht darüber von der Öffentlichkeit noch als Gegenwartsberichterstattung empfunden werde. Eine Reaktualisierung sei möglich. Auch die Mitteilung der Vorgeschichte und der Hintergründe sei privilegiert. Die UdP würden in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die öffentliche Darstellung des Einsatzes deutscher Soldaten in Afghanistan als Beleg für die Behauptung veröffentlicht und damit gem. § 50 UrhG wahrnehmbar gemacht, es gehe nicht um die Beteiligung an einer Friedensmission, sondern an einem Krieg.

Verhältnismäßigkeit: Die öffentliche Zugänglichmachung der UdP sei geeignet gewesen, das mit der Berichterstattung verfolgte Ziel zu erreichen, der Öffentlichkeit die behauptete Diskrepanz zwischen der öffentlichen Darstellung und den tatsächlichen Gegebenheiten nachprüfbar zu machen. Die Veröffentlichung sei auch erforderlich gewesen, weil kein mindestens gleich geeignetes Mittel ersichtlich gewesen sei. Die Abwägung sei wegen des Umsetzungsspielraums aus der Formulierung „soweit es der Informationszweck rechtfertigt“ nach Art. 5 Abs. 3 Buchst. c RL 2001/29/EG und wegen fehlender Anhaltspunkte für ein widrigenfalls nicht gewahrtes Grundrechtsniveau anhand der Grundrechte des GG und nicht derer der GRC vorzunehmen.

Urheberrechtsspezifische Geheimhaltung: Die Ausschließlichkeitsrechte zur Vervielfältigung und zur öffentlichen Zugänglichmachung fielen für Art. 14 GG bei der Abwägung nicht ins Gewicht, weil die UdP naturgemäß nicht wirtschaftlich verwertbar seien. Beim vom Urheberpersönlichkeitsrecht geschützten Interesse an Geheimhaltung gehe es nicht um den besonderen Schutz der Geheimhaltung aus staatlichem Interesse, der etwa durch das SÜG, § 3 Nr. 1 Buchst. b IFG und §§ 93 ff. StGB (Landesverrat und die Gefährdung der äußeren Sicherheit) gewährleistet werde, sondern um das Interesse, über die erstmalige Veröffentlichung des Werks zu bestimmen. Hier überwiege das Veröffentlichungsinteresse aufgrund von Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG wegen des besonderen Gewichts der politischen Auseinandersetzung mit dem Auslandseinsatz.

Dreistufentest: Das Erfordernis der Beschränkung des Zugänglichmachens auf bestimmte Sonderfälle (erste Stufe gem. Art. 5 Abs. 5 RL 2001/29/EG) sei erfüllt, da § 50 UrhG nur eine Schranke für einen besonderen Fall biete. Eine Beeinträchtigung der normalen Verwertung des Werks (zweite Stufe) setze voraus, dass in die Primärverwertung eingegriffen werde, woran es schon wegen nicht zu erwartender wirtschaftlicher Verwertung fehle. Ob eine ungebührliche Verletzung der berechtigten Interessen des Rechtsinhabers (dritte Stufe) vorliege, sei durch eine Gebotenheitsprüfung und Interessenabwägung zu ermitteln. Wie bereits im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit dargelegt, sei dies der Fall.

Quellenangabe: Der Zeitungsverlag habe offengelegt, dass die veröffentlichten Texte von Angehörigen der Bundewehr verfasst und von der Bundesrepublik als „Unterrichtung des Parlaments“ verwendet würden, und damit die Angabe von Fundstelle und Urheberbezeichnung gem. § 63 Abs. 2 Satz 1 UrhG erfüllt. § 50 UrhG könne im Gegensatz zum Zitatrecht veröffentlichter Werke auch die Erstveröffentlichung (§ 12 UrhG) rechtfertigen (a.A. Hoeren/Düwel, MMR 2019, 666, 667).


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