BGH, Urt. 4.7.2023 - XI ZR 77/22

Anspruch auf Zahlung von Nutzungsersatz bei Rückabwicklung eines im Fernabsatz geschlossenen Darlehensvertrags

Autor: RA, FAArbR, zert. Datenschutzbeauftragter (TÜV) Michael Wübbeke, LL.M. (Amsterdam), Norderstedt
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 12/2023
Einem Verbraucher steht aus einem nach erklärtem Widerruf rückabzuwickelnden im Fernabsatz geschlossenen Darlehensvertrag ein Anspruch auf Nutzungsersatz aus §§ 346 Abs. 1 2. Hs., 357 Abs. 1 Satz 1 a.F. BGB hinsichtlich der von ihm erbrachten Zins- und Tilgungsleistungen gegenüber dem Darlehensgeber zu.

RL 2002/65/EG Art. 7 Abs. 4; BGB a.F. § 357 Abs. 1 Satz 1, § 346 Abs. 1 Halbs. 2

Das Problem

Darlehensgeber und Darlehensnehmer schlossen 2005 unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln einen durch eine Grundschuld besicherten Verbraucherdarlehensvertrag über nominal 144.000 € zu einem anfänglichen effektiven Jahreszins von 4,21 % p.a. mit einer Zinsbindung bis zum 31.12.2025. Über das dem Darlehensnehmer zustehende Widerrufsrecht belehrte der Darlehensgeber bei Abschluss des Darlehensvertrages rechtlich unzureichend.

Der Darlehensnehmer erbrachte Zins- und Tilgungsleistungen. Mit Schreiben vom 3.3.2016 widerrief er seine auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichtete Willenserklärung. Er löste das Darlehen durch unter Vorbehalt geleistete Zahlungen zum 30.6.2016 ab. Der Darlehensnehmer beanspruchte nach erklärter Aufrechnung mit Ansprüchen aus dem aufgrund des Widerrufs entstandenen Rückgewährschuldverhältnis Zahlung eines von ihm errechneten Rückgewährsaldos i.H.v. 94.705,05 €, in den er zu seinen Gunsten einen Anspruch auf Ersatz der auf die von ihm erbrachten Zins- und Tilgungsleistungen gezogenen Nutzungen, aber keine Wertersatzansprüche des Darlehensgebers eingestellt hatte.

Die Entscheidung des Gerichts

Dem Darlehensnehmer stehe ein Anspruch auf Nutzungsersatz bzgl. der von ihm auf das Darlehen erbrachten Zins- und Tilgungsleistungen aus § 357 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. i.V.m. § 346 Abs. 1 BGB zu.

Keine Ausnahmeregelung: Der im Fernabsatz geschlossene Darlehensvertrag falle in den Anwendungsbereich der zugrunde liegenden RL 2002/65/EG. Die grundpfandrechtliche Besicherung stehe dem nicht entgegen. Denn der Gesetzgeber habe von der in Art. 6 Abs. 3 Satz 1 Buchst. a und b der Richtlinie eröffneten Möglichkeit, Immobiliarkredite und grundpfandrechtlich besicherte Kredite vom Widerrufsrecht auszunehmen, im maßgebenden Zeitraum keinen Gebrauch gemacht.

Keine entgegenstehende unionsrechtskonforme Auslegung: Die maßgebenden nationalen Vorschriften könnten nicht im Licht der RL 2002/65/EG unionsrechtskonform dahin ausgelegt werden, dass ein Verbraucher im Anwendungsbereich dieser Richtlinie keinen Nutzungsersatz auf erbrachte Zins- und Tilgungsleistungen beanspruchen könne. Die Entscheidung darüber, ob im Rahmen des nationalen Rechts ein Spielraum für eine richtlinienkonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung bestehe, obliege den nationalen Gerichten. Eine richtlinienkonforme Auslegung dürfe aber nicht dazu führen, dass das Regelungsziel des Gesetzgebers in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht werde, oder dazu, dass einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Norm ein entgegengesetzter Sinn gegeben oder der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt werde. Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung dürfe nicht zu einer Auslegung des nationalen Rechts contra legem führen. Dies entspreche auch der ständigen Rechtsprechung des EuGH (EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04, Slg. 2006, I‑6057 Rz. 110; EuGH v. 24.1.2012 – C-282/10, NJW 2012, 509 Rz. 25).

Keine teleologische Reduktion: Nach diesen Grundsätzen komme eine teleologische Reduktion des § 357 Abs. 1 BGB a.F. dahin, dass die in dieser Vorschrift vorgesehene Verweisung auf § 346 Abs. 1 Halbs. 2 BGB auf im Wege des Fernabsatzes geschlossene Verbraucherdarlehensverträge keine Geltung beanspruche, nicht in Betracht. Eine Rechtsfortbildung im Weg der teleologischen Reduktion setze wie eine Analogie eine verdeckte Regelungslücke i.S.e. planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus. An einer solchen fehle es hier. Die bewusste Entscheidung des Gesetzgebers, die Geltung des neuen Rechts auf die Zukunft zu beschränken, könne durch die Rechtsprechung nicht revidiert werden.

Historische Auslegung: Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts könne eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes nicht unter Hinweis darauf konstruiert werden, der Gesetzgeber habe ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien jedenfalls den zwingenden Vorgaben der RL 2002/65/EG genügen wollen. Die Gesetzgebungsmaterialien (BT-Drucks. 15/2946, 23 re. Sp.) belegten vielmehr im Gegenteil, dass der Gesetzgeber mit der Verweisung in § 357 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. auf § 346 Abs. 1 BGB einen Nutzungsersatzanspruch des Verbrauchers bewusst habe schaffen wollen. Denn dort heiße es unmissverständlich, dass im Fall des Widerrufs gem. § 357 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. i.V.m. § 346 Abs. 1 BGB nicht nur die empfangenen Leistungen zurückzugewähren, sondern auch die gezogenen Nutzungen herauszugeben seien. Im Einklang hiermit stünden die Ausführungen in den Gesetzgebungsmaterialien zu dem späteren Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung vom 20.9.2013 (BGBl. I 3642). Auch dort heiße es, dass dem Darlehensnehmer gegen den Darlehensgeber im Fall des Widerrufs von Verbraucherdarlehensverträgen bisher ein Anspruch auf Herausgabe oder Ersatz von Nutzungen über § 346 BGB zugestanden habe (BT-Drucks. 17/12637, 65).

Damit ergebe sich nicht nur aus dem eindeutigen Gesetzeswortlaut und der Gesetzessystematik, sondern auch aus der Gesetzesbegründung, dass eine planwidrige Regelungslücke tatsächlich nicht vorliege. Der Gesetzgeber habe in dem hier maßgebenden Zeitraum einen Nutzungsersatzanspruch des Verbrauchers bewusst und ausdrücklich geregelt.


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