BGH, Urt. 9.3.2023 - I ZR 167/21

Zu den Anforderungen an die Prüfung der ausschließlich technischen Bedingtheit eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters

Autor: RA Dr. Gabriel WittmannRAin Annalena Kempter, beide GvW Graf von Westphalen, Rechtsanwälte Steuerberater Partnerschaft mbB, München
Aus: IP-Rechtsberater, Heft 07/2023
Die gem. Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) 6/2002 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (GGV) erforderliche Prüfung, ob Erscheinungsmerkmale ausschließlich durch die technische Funktion des Erzeugnisses bedingt sind, ist für jedes den Gesamteindruck prägende Merkmal gesondert anhand aller für den Einzelfall maßgeblichen objektiven Umstände vorzunehmen (Bestätigung von EuGH, Urt. v. 8.3.2018 – C-395/16, GRUR 2018, 612 = WRP 2018, 546 – DOCERAM; Urt. v. 2.3.2023 – C-684/21, WRP 2023, 434 – Papierfabriek Doetinchem; BGH, Urt. v. 7.10.2020 – I ZR 137/19, GRUR 2021, 473 = WRP 2021, 196 – Papierspender).

VO (EG) Nr. 6/2002 Art. 8 Abs. 1

Das Problem

Die Klägerin ist eine in Luxemburg ansässige Inhaberin des eingetragenen Gemeinschaftsgeschmackmusters („GGM“) Nr. 713284-0001 in der Erzeugniskategorie „Schleifmaschinen“. Die nachfolgend eingeblendeten Abbildungen des GGM zeigen verschiedene Perspektiven eines sog. Tellerschleifgeräts:

Die Beklagten boten das nachfolgend wiedergegebene, von der Streithelferin hergestellte Tellerschleifgerät an, durch das sich die Klägerin in ihrem GGM verletzt sieht:

Die nach erfolgloser Abmahnung von der Klägerin gegen die Beklagte wegen Verletzung des GGM erhobene Klage vor dem LG Frankfurt/M. wurde zunächst abgewiesen. Die grundlegende Form des Verletzungsmusters sei zwar der des Klagemusters ähnlich, auf Grund der vorhandenen Unterschiede – etwa der Verjüngung im unteren Teil des Motorgehäuses sowie der unterschiedlichen Formgebung im Bereich des Übergangs vom Schleifteller zum hinteren Teil des Motorgehäuses – falle das Verletzungsmuster jedoch aus dem „normalen, eher weiten“ Schutzbereich des Klagedesigns heraus.

Auf die Berufung der Klägerin hin änderte das OLG Frankfurt das Urteil ab und verurteilte die Beklagte antragsgemäß. Das von der Beklagten angebotene Tellerschleifgerät verletze den Schutzumfang des Klagemusters, da die Unterschiede nicht geeignet seien, beim informierten Benutzer einen abweichenden Gesamteindruck zu erwecken. Das Verletzungsmuster übernehme sämtliche der insgesamt sieben prägenden gestalterischen Merkmale. Entscheidend sei das Verhältnis der Proportionen der einzelnen Bauelemente zueinander, die Grundform des Gehäuses sowie der variable Schleiftisch mit der markanten halbmondförmigen Halterung. Die Auffassung der Beklagten und der Streithelferin, eine Tellerschleifmaschine könne mit den gestellten Anforderungen aus technischen Gründen nicht anders aussehen, hielt das Berufungsgericht für nicht überzeugend. Das Verletzungsmuster wirke wie eine „intelligente Kopie“, bei der das Klagemuster als Vorlage gedient habe. Der Entwerfer habe den weiten Gestaltungsspielraum bei der Formgebung nicht genutzt.

Die Entscheidung des Gerichts

Auf Revision der Beklagten und der Streithelferin hin, hebt der BGH das Berufungsurteil auf und verweist die Sache an das Berufungsgericht zurück. Der Schutzumfang des Gemeinschaftsgeschmacksmusters sei falsch bestimmt worden. Das Berufungsgericht habe, soweit es einzelne für den Gesamteindruck prägende Erscheinungsmerkmale des Klagemusters als nicht ausschließlich technisch bedingt erachtet, den Vortrag der Beklagten und der Streithelferin nicht erschöpfend gewürdigt.

Für die Beurteilung der Frage, ob die fraglichen Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GGV ausschließlich durch deren technische Funktion bedingt sind, seien alle objektiven maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu würdigen. Das Berufungsgericht habe sich jedoch nicht im erforderlichen Maße inhaltlich mit den Ausführungen der Beklagten und der Streithelferin auseinandergesetzt, wonach u.a.
  • das Kunststoffgehäuse des Tellerschleifgeräts einen definierten Raum ausbilden müsse, der zum Aufbau einer hinreichenden gehäuseinternen Luftbewegung (zur Motorkühlung) führe;
  • das Gehäuse zum Schleifteller hin nach vorne und radial außen gezogen sei, damit (aus Kostengründen) auf ein teures zusätzliches Schutzblech verzichtet werden könne;
  • der Gerätefuß zusammen mit dem Schleiftisch abgenommen werden könne, um eine Benutzung des auf der Gehäuserückseite stehenden Geräts mit horizontal ausgerichtetem Schleifteller zu ermöglichen;
  • der Gerätefuß vorne und flächig auf dem Untergrund aufliegend ausgebildet werde, um einen sicheren Stand des Geräts auch bei einer Belastung im vorderen Bereich des Schleiftischs zu gewährleisten;
  • die direkte Montage des Schleiftellers auf die Achse des Motors ohne Winkelgetriebe oder Ähnliches üblich und die kostengünstigste Variante sei;
  • die rechteckige Form des Schleiftischs üblich und erforderlich sei, um dem zu bearbeitenden Werkstück eine sichere Auflage zu ermöglichen;
  • die Schleiftischhalterung eine Bearbeitung des Werkstücks nicht nur im Winkel von 90 Grad, sondern auch in anderen Winkeln ermöglichen solle und die Bogenform, Gradeinteilung und Arretierung dieser technischen Anforderung folgten.
Es fehle insbesondere eine nachvollziehbare Begründung zur technischen Funktion des Gehäuses. Ob der Umstand, dass der Motor direkt hinter dem Schleifteller und nicht seitlich versetzt angeordnet ist, in die Beurteilung eingeflossen ist, bleibe unklar. Dass das Motorgehäuse auf dem Gerätefuß aufsitzt und den sichtbaren oberen Teil des Schleiftellers umrahmt, sei nicht berücksichtigt. Im Hinblick auf die Gestaltung der Verbindung zwischen Schleiftischhalterung und Schleiftisch bleibe unklar, welche anderen Gestaltungen zur Ausbildung eines solchen Mechanismus mit Gradeinteilung das Berufungsgericht als vorstellbar erachtet. Das Abstellen auf die „klaren Proportionen des Klagemusters“, wobei sich das Gerätegehäuse auf etwa zwei Drittel und der waagrechte Schleiftisch auf etwa ein Drittel der Gesamtlänge erstreckten, sei unzureichend auch weil die in diesem Rahmen getroffene Feststellung eines „harmonischen Gesamteindrucks“ keine objektivierbare Charakterisierung eines Einzelmerkmals darstelle.

Das Berufungsgericht wird nach Zurückverweisung den Schutzumfang erneut bestimmen müssen. Es erscheint denkbar, dass auf Grundlage eines durchschnittlichen oder gar geringen Schutzumfangs einen vom Klagedesign abweichenden Gesamteindruck des angegriffenen Tellerschleifgeräts festgestellt, d.h. eine GGM-Verletzung, abgelehnt wird.


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