BVerfG, Beschl. 25.2.2020 - 1 BvR 1282/17

Kein Recht auf Vergessen bzgl. prominenter Abstammung

Autor: RA Markus Rössel, LL.M. (Informationsrecht), Köln
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 08/2020
Da das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht das Recht gewährleistet, öffentlich so wahrgenommen zu werden, wie es den eigenen Wünschen entspricht, besteht i.d.R. kein Recht auf Vergessen einer prominenten Abstammung.

GG Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, 5 Abs. 1 Satz 2; BGB § 823 Abs. 1, § 1004

Das Problem

Ein Nachrichtenmagazin veröffentlichte 1978 einen Porträtbeitrag über einen bis Mitte der achtziger Jahre tätigen Oberbürgermeister einer süddeutschen Großstadt, in dem u.a. auch einer seiner Söhne kurz namentlich erwähnt wird, der heute als Partner einer seinen Familiennamen tragenden Anwaltskanzlei praktiziert. Der Beitrag ist weiterhin im Online-Archiv des Magazins auffindbar. Bei Eingabe des Namens des Sohns in der Google-Suche erschien eine Verlinkung dieses Beitrags an 45. Stelle bzw. auf der fünften Seite der Ergebnisliste. Der Sohn verklagte die Verlegerin des Magazins erfolglos, es zu unterlassen, ihn namentlich als Sohn des ehemaligen Oberbürgermeisters zu nennen.

Die Entscheidung des Gerichts

Die auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde gegen die zivilgerichtliche Zurückweisung des Unterlassungsbegehrens gegen das Online-Pressearchiv wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Informationelle Selbstbestimmung: Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung schütze vor den spezifischen Gefährdungen der von Betroffenen nicht mehr zu kontrollierenden Datensammlung und -verknüpfung und nicht vor der Mitteilung personenbezogener Informationen im öffentlichen Kommunikationsprozess, dessen Schutz dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht vorbehalten bleibe (vgl. BVerfG v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I, Rz. 89 f., CR 2020, 30 = ITRB 2020, 28).

Ursprüngliche oder neuerliche Berichterstattung: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht biete insb. Schutz vor einer Verbreitung von Informationen, die geeignet seien, die Persönlichkeitsentfaltung erheblich zu beeinträchtigen. Es gewährleiste jedoch nicht das Recht, öffentlich so wahrgenommen zu werden, wie es den eigenen Wünschen entspreche. Auszugehen sei vom Grundsatz der Zulässigkeit wahrhafter Berichterstattung aus der Sozialsphäre. Der persönlichkeitsrechtliche Schutzbedarf sei insb. unter Würdigung von Anlass und Gegenstand sowie Form, Art und Reichweite der Veröffentlichung und deren Bedeutung und Wirkung unter zeitlichen Aspekten zu ermitteln und mit den Berichterstattungsinteressen in Ausgleich zu bringen.

Öffentlich zugängliches Vorhalten: Die Zulässigkeit des öffentlich zugänglichen Vorhaltens insb. in Pressearchiven sei anhand einer Grundrechtsabwägung bezogen auf den Zeitpunkt des Löschungsverlangens zu beurteilen. Auszugehen sei vom gesteigerten berechtigten Interesse von Presseorganen, eine ursprünglich zulässige Berichterstattung mit sozialem Bezug ohne erneute Prüfung oder Änderung der Öffentlichkeit dauerhaft und vollständig verfügbar zu halten (vgl. zu Richtigstellung rechtmäßiger Verdachtsberichterstattung BVerfG v. 2.5.2018 – 1 BvR 666/17, Rz. 19 ff., K&R 2018, 482). Sei – wie vorliegend – die ursprüngliche rechtliche Zulässigkeit der Veröffentlichung nicht geklärt, seien die Gerichte bei langem Zeitablauf und schwieriger Tatsachenermittlung nicht gehindert, diese Frage bei der Abwägung offen zu lassen.

Abwägungskriterien: Insoweit hätten die Gerichte insb. die Schwere drohender Persönlichkeitsbeeinträchtigung, den Zeitablauf, mögliche Reaktualisierungen, die konkrete Breitenwirkung, die Priorität bei der Internetsuche und das Interesse von Allgemeinheit sowie Inhalteanbietern an einer grundsätzlich unveränderten Archivierung zu berücksichtigen.

Abwägung: Aus der öffentlichen Kenntnis um das Kindschaftsverhältnis drohten keine ähnlich schweren Persönlichkeitsbeeinträchtigungen wie bei einer zutreffenden Berichterstattung über schwere Straftaten oder allgemein grob missbilligtem Verhalten. Die Breitenwirkung sei bei einem Listenplatz 45 auch nicht so wie bei einem der ersten Listenplätzen gegeben, wo bei wenig intensiver Recherche bereits auf den problematischen Bericht hingelenkt würde (vgl. hierzu zum Erfordernis vermittelnder Modelle zur Abmilderung BVerfG v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I, Rz. 129 ff., CR 2020, 30 = ITRB 2020, 28). Da das allgemeine Persönlichkeitsrecht – wie bereits festgestellt – keine einseitig durch den Betroffenen bestimmte Selbstdefinition umfasse, hätten die Gerichte den Beeinträchtigungen aus der öffentlichen Bekanntheit der prominenten Abstammung des Sohns keine durchgreifende Bedeutung beimessen müssen.


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