BVerfG, Beschl. 6.11.2019 - 1 BvR 16/13
Recht auf Vergessen I
Autor: RA Markus Rössel, LL.M. (Informationsrecht), Köln
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 02/2020
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 02/2020
Für den Grundrechtsausgleich zwischen einem Presseverlag, der seine Berichte in einem Online-Archiv bereitstellt, und dem durch die Berichte Betroffenen ist zu berücksichtigen, wieweit der Verlag zum Schutz der Betroffenen die Erschließung und Verbreitung der alten Berichte im Internet – insb. deren Auffindbarkeit durch Suchmaschinen bei namensbezogenen Suchabfragen – tatsächlich verhindern kann.
GG Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, 5 Abs. 1; BGB §§ 823, 1004
Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde: Für die Ausgestaltung des sog. Medienprivilegs für die hier umstrittene Verarbeitung personenbezogener Daten zu journalistischen Zwecken stehe den Mitgliedstaaten heute nach Art. 85 DSGVO – früher nach Art. 9 DSRL 95/46/EG – ein Umsetzungsspielraum zu. In Fällen nicht vollständig determinierten Unionsrechts sehe dieses der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein entgegen.
Grundrechte des GG als Prüfungsmaßstab: Die Grundrechte der GRC seien sekundär neben denen des GG dann Prüfungsmaßstab, wenn die „Durchführung von Unionsrecht“ in Frage stehe, das Umsetzungsspielräume gewähre (vgl. zur Nachrangigkeit Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV und Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC). Wegen der in diesen Fällen angestrebten Vielfalt des Grundrechtsschutzes gelte die widerlegliche Vermutung, dass die Grundrechte des GG das Schutzniveau der GRC mit gewährleisteten und in deren Licht und dem der EMRK auszulegen seien (vgl. auch umgekehrt Art. 52 Abs. 4 GRC). Sei konkret erkennbar, dass der EuGH spezifische Schutzstandards zugrunde lege, die von den deutschen Grundrechten nicht gewährleistet würden, so sei die Vermutung der Mitgewährleistung widerlegt.
Allgemeines Persönlichkeitsrecht: Aus dem Persönlichkeitsrecht folge nicht ein allein dem Einzelnen überlassenes umfassendes Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person. Es ziele jedoch darauf, die Grundbedingungen dafür zu sichern, dass die einzelne Person ihre Individualität selbstbestimmt entwickeln und wahren könne, indem sie selbst darüber entscheide, ob, wann und wie sie sich in die Öffentlichkeit begebe.
Unberührte informationelle Selbstbestimmung: Schutz gegenüber der Verbreitung von Informationen im öffentlichen Raum böten die äußerungsrechtlichen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unabhängig vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Dies sei vorliegend der Fall, denn der Verurteilte wende sich nicht gegen eine Pflicht zur Preisgabe von Daten oder gegen eine intransparente Nutzung seiner Daten, gegen welche des Recht auf informationelle Selbstbestimmung Schutz biete.
Meinungsfreiheit und Pressefreiheit: Geschützt sei auch die Entscheidung eines Presseverlags, frühere Presseberichte der Öffentlichkeit dauerhaft in Archiven zugänglich zu machen. Eine Begrenzung der Presse auf eine anonymisierte Berichterstattung über Straftäter würde eine gewichtige Beschränkung von Informationsmöglichkeiten der Öffentlichkeit bedeuten, die eine Rechtfertigung voraussetze. Die Bereitstellung von Online-Archiven sei auch von öffentlichem Interesse am Empfang von Informationen über die Landesgrenzen hinweg und an zeithistorischen Recherchen.
Vergessenwerden: Erst die Ermöglichung eines Zurücktretens vergangener Sachverhalte eröffne dem Einzelnen die Chance darauf, dass Vergangenes gesellschaftlich in Vergessenheit gerate, und damit die Chance zum Neubeginn in Freiheit (vgl. auch EGMR v. 28.6.2018 – 60798/10 und 65599/10 Rz. 100; EuGH v. 24.9.2019 – C-136/17 Rz. 77). Andererseits stelle das Grundgesetz die dauerhafte Auseinandersetzung mit Taten und Tätern nicht in Frage, denen als öffentliche Personen Prägekraft für das Selbstverständnis des Gemeinwesens insgesamt zukomme. Die Verbreitung einer Information könne unzulässig, aber auch wieder zulässig werden.
Keine proaktive Prüfpflicht: Eine proaktive Prüfpflicht während des Zeitablaufs ohne konkrete Beanstandung übe auf Presseverlage unzulässigen Druck aus, entweder von einer identifizierenden Berichterstattung überhaupt abzusehen oder aber auf deren Bereitstellung in Online-Archiven ganz zu verzichten (vgl. BGH v. 18.12.2018 – VI ZR 439/17 Rz. 26, CR 2019, 430; auch EGMR v. 28.6.2018 – 60798/10 und 65599/10 Rz. 104).
Wirkung der Berichterstattung: Je stärker die Verbreitung zurückliegender Berichte das Privatleben und die Entfaltungsmöglichkeiten der Person als ganze beeinträchtigen, desto größeres Gewicht könne einem Schutzanspruch zukommen.
Gegenstand und Anlass der Berichterstattung: Soweit Berichte sich mit dem Verhalten einer Person in der Sozialsphäre befassten, könne ihrer Zugänglichkeit langfristig eher Gewicht zukommen, als wenn sie allein von privatem, bewusst nicht vor anderen gezeigtem Fehlverhalten handelten. Zurückliegende Ereignisse könnten eher fortdauernde Bedeutung behalten, wenn sie in eine Abfolge etwa gesellschaftspolitischer oder kommerzieller Aktivitäten eingebunden seien, durch den Betroffenen wachgehalten würden oder durch nachfolgende Begebenheiten neue Relevanz erhielten.
Gewicht der Beeinträchtigung: Die Beeinträchtigung sei bei einem Bewertungsportal geringer, bei dem sich die Aussagekraft älterer Informationen durch neuere Eintragungen relativiere. Höher sei sie, wenn die Informationen im Internet breitenwirksam gestreut würden, etwa durch prioritäre Kommunikation durch Suchmaschinen. Gesetzlich geregelte Verwendungs‑, Veröffentlichungs- oder Löschungspflichten seien wegen ihrer spezifischen Zweckverfolgung nicht schematisch zu übertragen.
Zwischenstufen zur Löschung: Eine Pflicht zu einer endgültigen, möglicherweise auch die gedruckten Ausgaben betreffenden Vernichtung oder Änderung vormals veröffentlichter Berichte sei mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG grundsätzlich unvereinbar (vgl. auch EGMR v. 28.6.2018 – 60798/10 und 65599/10, Rz. 90). Das Interesse an sachbezogener Recherche habe ein höheres Gewicht als das an personenbezogener. Möglich sei die Unterdrückung von Namen für die Indexierung durch Internetsuchmaschinen. Dem stehe nicht entgegen, dass Drittverweise ggf. doch zu einer Indexierung führen könnten.
Zielbestimmungen für Online-Archive: Unzumutbar könnten Maßnahmen im Einzelfall dann sein, wenn sie – etwa angesichts ubiquitärer Spiegelungen eines Texts auf anderen Foren – von vornherein ergebnislos seien. Dem Betreiber eines Online-Archivs sei die Einflussmöglichkeit zu belassen, zwischen verschiedenen Alternativen der Schutzgewähr mitzuentscheiden. Die Fachgerichte hätten die Konturen wirksamer und zumutbarer Schutzmaßnahmen fortlaufend fortzuschreiben.
GG Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, 5 Abs. 1; BGB §§ 823, 1004
Das Problem
Ein im Jahr 1982 wegen Mordes Verurteilter wurde im Jahr 2002 nach verbüßter Strafe aus der Haft entlassen. Über den Fall veröffentlichte das Magazin DER SPIEGEL in den Jahren 1982 und 1983 drei Artikel in seiner gedruckten Ausgabe. Seit 1999 stellt die Onlinezeitung dieses Magazins die Berichte in einem Online-Archiv kostenlos und ohne Zugangsbarrieren zum Abruf bereit. Gibt man den Namen des Verurteilten in ein gängiges Internetsuchportal ein, werden die Artikel unter den ersten Treffern angezeigt. Der BGH lehnte den Anspruch des Verurteilten gegen die Onlinezeitung auf Unterlassung der Veröffentlichung ab.Die Entscheidung des Gerichts
Nicht ausreichend sei durch den BGH gewürdigt worden, dass unter den heutigen Nutzungsgewohnheiten des Internets eine hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass Freunde, Nachbarn und insb. auch neue Bekannte schon aus einem oberflächlichen Informationsinteresse heraus den Namen des Verurteilten in das Suchfeld einer Suchmaschine eingäben. Es fehle auch an einer Auseinandersetzung mit der Frage abgestufter Schutzmöglichkeiten, die eher zumutbar sein könnten als die Entfernung der Artikel oder die digitale Schwärzung des Namens.Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde: Für die Ausgestaltung des sog. Medienprivilegs für die hier umstrittene Verarbeitung personenbezogener Daten zu journalistischen Zwecken stehe den Mitgliedstaaten heute nach Art. 85 DSGVO – früher nach Art. 9 DSRL 95/46/EG – ein Umsetzungsspielraum zu. In Fällen nicht vollständig determinierten Unionsrechts sehe dieses der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein entgegen.
Grundrechte des GG als Prüfungsmaßstab: Die Grundrechte der GRC seien sekundär neben denen des GG dann Prüfungsmaßstab, wenn die „Durchführung von Unionsrecht“ in Frage stehe, das Umsetzungsspielräume gewähre (vgl. zur Nachrangigkeit Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV und Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC). Wegen der in diesen Fällen angestrebten Vielfalt des Grundrechtsschutzes gelte die widerlegliche Vermutung, dass die Grundrechte des GG das Schutzniveau der GRC mit gewährleisteten und in deren Licht und dem der EMRK auszulegen seien (vgl. auch umgekehrt Art. 52 Abs. 4 GRC). Sei konkret erkennbar, dass der EuGH spezifische Schutzstandards zugrunde lege, die von den deutschen Grundrechten nicht gewährleistet würden, so sei die Vermutung der Mitgewährleistung widerlegt.
Allgemeines Persönlichkeitsrecht: Aus dem Persönlichkeitsrecht folge nicht ein allein dem Einzelnen überlassenes umfassendes Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person. Es ziele jedoch darauf, die Grundbedingungen dafür zu sichern, dass die einzelne Person ihre Individualität selbstbestimmt entwickeln und wahren könne, indem sie selbst darüber entscheide, ob, wann und wie sie sich in die Öffentlichkeit begebe.
Unberührte informationelle Selbstbestimmung: Schutz gegenüber der Verbreitung von Informationen im öffentlichen Raum böten die äußerungsrechtlichen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unabhängig vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Dies sei vorliegend der Fall, denn der Verurteilte wende sich nicht gegen eine Pflicht zur Preisgabe von Daten oder gegen eine intransparente Nutzung seiner Daten, gegen welche des Recht auf informationelle Selbstbestimmung Schutz biete.
Meinungsfreiheit und Pressefreiheit: Geschützt sei auch die Entscheidung eines Presseverlags, frühere Presseberichte der Öffentlichkeit dauerhaft in Archiven zugänglich zu machen. Eine Begrenzung der Presse auf eine anonymisierte Berichterstattung über Straftäter würde eine gewichtige Beschränkung von Informationsmöglichkeiten der Öffentlichkeit bedeuten, die eine Rechtfertigung voraussetze. Die Bereitstellung von Online-Archiven sei auch von öffentlichem Interesse am Empfang von Informationen über die Landesgrenzen hinweg und an zeithistorischen Recherchen.
Vergessenwerden: Erst die Ermöglichung eines Zurücktretens vergangener Sachverhalte eröffne dem Einzelnen die Chance darauf, dass Vergangenes gesellschaftlich in Vergessenheit gerate, und damit die Chance zum Neubeginn in Freiheit (vgl. auch EGMR v. 28.6.2018 – 60798/10 und 65599/10 Rz. 100; EuGH v. 24.9.2019 – C-136/17 Rz. 77). Andererseits stelle das Grundgesetz die dauerhafte Auseinandersetzung mit Taten und Tätern nicht in Frage, denen als öffentliche Personen Prägekraft für das Selbstverständnis des Gemeinwesens insgesamt zukomme. Die Verbreitung einer Information könne unzulässig, aber auch wieder zulässig werden.
Keine proaktive Prüfpflicht: Eine proaktive Prüfpflicht während des Zeitablaufs ohne konkrete Beanstandung übe auf Presseverlage unzulässigen Druck aus, entweder von einer identifizierenden Berichterstattung überhaupt abzusehen oder aber auf deren Bereitstellung in Online-Archiven ganz zu verzichten (vgl. BGH v. 18.12.2018 – VI ZR 439/17 Rz. 26, CR 2019, 430; auch EGMR v. 28.6.2018 – 60798/10 und 65599/10 Rz. 104).
Wirkung der Berichterstattung: Je stärker die Verbreitung zurückliegender Berichte das Privatleben und die Entfaltungsmöglichkeiten der Person als ganze beeinträchtigen, desto größeres Gewicht könne einem Schutzanspruch zukommen.
Gegenstand und Anlass der Berichterstattung: Soweit Berichte sich mit dem Verhalten einer Person in der Sozialsphäre befassten, könne ihrer Zugänglichkeit langfristig eher Gewicht zukommen, als wenn sie allein von privatem, bewusst nicht vor anderen gezeigtem Fehlverhalten handelten. Zurückliegende Ereignisse könnten eher fortdauernde Bedeutung behalten, wenn sie in eine Abfolge etwa gesellschaftspolitischer oder kommerzieller Aktivitäten eingebunden seien, durch den Betroffenen wachgehalten würden oder durch nachfolgende Begebenheiten neue Relevanz erhielten.
Gewicht der Beeinträchtigung: Die Beeinträchtigung sei bei einem Bewertungsportal geringer, bei dem sich die Aussagekraft älterer Informationen durch neuere Eintragungen relativiere. Höher sei sie, wenn die Informationen im Internet breitenwirksam gestreut würden, etwa durch prioritäre Kommunikation durch Suchmaschinen. Gesetzlich geregelte Verwendungs‑, Veröffentlichungs- oder Löschungspflichten seien wegen ihrer spezifischen Zweckverfolgung nicht schematisch zu übertragen.
Zwischenstufen zur Löschung: Eine Pflicht zu einer endgültigen, möglicherweise auch die gedruckten Ausgaben betreffenden Vernichtung oder Änderung vormals veröffentlichter Berichte sei mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG grundsätzlich unvereinbar (vgl. auch EGMR v. 28.6.2018 – 60798/10 und 65599/10, Rz. 90). Das Interesse an sachbezogener Recherche habe ein höheres Gewicht als das an personenbezogener. Möglich sei die Unterdrückung von Namen für die Indexierung durch Internetsuchmaschinen. Dem stehe nicht entgegen, dass Drittverweise ggf. doch zu einer Indexierung führen könnten.
Zielbestimmungen für Online-Archive: Unzumutbar könnten Maßnahmen im Einzelfall dann sein, wenn sie – etwa angesichts ubiquitärer Spiegelungen eines Texts auf anderen Foren – von vornherein ergebnislos seien. Dem Betreiber eines Online-Archivs sei die Einflussmöglichkeit zu belassen, zwischen verschiedenen Alternativen der Schutzgewähr mitzuentscheiden. Die Fachgerichte hätten die Konturen wirksamer und zumutbarer Schutzmaßnahmen fortlaufend fortzuschreiben.