BVerfG, Beschl. 7.7.2020 - 1 BvR 146/17

Kein Recht auf Vergessen bei Verdachtsberichterstattung

Autor: RA Markus Rössel, LL.M. (Informationsrecht), Köln
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 10/2020
Beim öffentlich zugänglichen Vorhalten einer Verdachtsberichterstattung im Online-Pressearchiv kommt ein Nachtragsanspruch bzgl. der Einstellung oder Nichterhebung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens nur in Betracht, sofern sie ausdrücklich auf unzureichendem Tatverdacht beruhen.

GG Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1

Das Problem

Ein Unternehmensberater unterstützte u.a. auch die Firma Siemens bei der Erschließung ausländischer Märkte und erhielt dafür Zahlungen im achtstelligen Bereich. Im Jahr 2007 erschien in der Europaausgabe einer US-amerikanischen Tageszeitung ein Artikel, der u.a. von dem namentlich genannten Unternehmensberater belastenden Aussagen leitender Siemens-Mitarbeiter berichtet, gegen die zu dem Zeitpunkt strafrechtlich wegen Korruption ermittelt wurde. Daneben erwähnt der Artikel, dass die Staatsanwaltschaft erklärt habe, der Unternehmensberater sei bisher weder befragt noch beschuldigt worden, dass er selbst die Vorwürfe abstreite und geltend mache, dass er mehrfach erfolglos Korruptionsfälle bei Siemens intern angezeigt habe. Ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen den Unternehmensberater wurde nicht eröffnet. Der Artikel ist in teilweise abgeänderter Form weiterhin online verfügbar.

Die Entscheidung des Gerichts

Die gerichtliche Zurückweisung des Unterlassungsbegehrens bzgl. der Verdachtsberichterstattung im Pressearchiv verletze den Unternehmensberater nicht in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.

Online-Pressearchiv: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht biete Schutz vor einer Verbreitung von Informationen, die geeignet seien, die Persönlichkeitsentfaltung erheblich zu beeinträchtigen. Soweit nicht die ursprüngliche oder eine neuerliche Berichterstattung, sondern – wie im vorliegenden Fall – das öffentlich zugängliche Vorhalten eines Berichts in Rede stehe, sei dessen Zulässigkeit wegen der durch Zeitablauf veränderten Beeinträchtigung anhand einer neuerlichen Abwägung der im Zeitpunkt des jeweiligen Löschungsbegehrens bestehenden grundrechtlich geschützten Interessen zu beurteilen (vgl. BVerfG v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I, Rz. 115 ff., CR 2020, 30 = ITRB 2020, 28).

Ursprüngliche Zulässigkeit: Dabei sei die anfängliche Zulässigkeit eines Berichts allerdings ein wesentlicher Faktor, der ein gesteigertes berechtigtes Interesse von Presseorganen begründe, diese Berichterstattung ohne erneute Prüfung oder Änderung der Öffentlichkeit dauerhaft verfügbar zu halten. Denn in diesem Fall habe die Presse bei der ursprünglichen Veröffentlichung bereits die für sie geltenden Maßgaben beachtet (vgl. zum klarstellendem Nachtrag BVerfG v. 2.5.2018 – 1 BvR 666/17, Rz. 20, IPRB 2018, 170).

Kriterien veränderter Umstände: Die Gerichte hätten insb. die anhaltende Schwere der drohenden Persönlichkeitsbeeinträchtigung, den Zeitablauf, das zwischenzeitliche Betroffenenverhalten inkl. Reaktualisierungen, die fortdauernde oder verblassende Breitenwirkung, die Priorität in den Ergebnislisten der Internetsuchmaschinen, das generelle Interesse der Allgemeinheit an der Dauerhaftigkeit der Verfügbarkeit und das grundrechtliche Interesse von Inhalteanbietern an einer grundsätzlich unveränderten Archivierung angemessen zu berücksichtigen. Einschränkungen der unveränderten Bereitstellung kämen nur bei besonders gravierenden Folgen für den Betroffenen in Betracht. Vorliegend komme erhebliches Gewicht dem Umstand zu, dass die Namenssuche nicht zu Treffern innerhalb der ersten 50 Nachweise der Internetsuchmaschinen führe.

Verdachtsberichterstattung: Zugunsten des Interesses an einer fortgesetzten Verfügbarkeit auch einer – wie hier vorliegenden – Verdachtsberichterstattung sei zunächst in Rechnung zu stellen, dass es zu den verfassungsrechtlich gesicherten Aufgaben der Presse gehöre, investigativ auch über Verdächtigungen von hohem öffentlichen Interesse zu berichten. Denn auch Möglichkeiten gehörten zur sozialen Wirklichkeit, die langfristig individuelles, gesellschaftliches und politisches Handeln beeinflussten und die aufzubereiten zur Pressefreiheit gehöre. Gerade der mangelnden Aufklärbarkeit von Verdachtslagen könne dabei, wenn es um strukturelle Grenzen von Aufklärungsmöglichkeiten etwa durch ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gehe, besondere Bedeutung zukommen, so dass dessen Einstellung oder Nichteinleitung dem Veröffentlichungs- oder Bereithaltungsinteresse nicht entgegenstünden.

Identifizierung: Zur Freiheit der Presse gehöre es dabei auch, individualisierend und identifizierend zu berichten. Insoweit dürfe sie nicht generell dazu verpflichtet oder mittelbar angehalten werden, im Bereich noch nicht erwiesener Tatsachen nur generische und abstrakte Aussagen zu machen (vgl. EGMR v. 28.6.2018 – 60798/10 und 65599/10 – M. L. und W. W. vs. Deutschland, Rz. 104 f., AfP 2019, 31). Vorliegend sei es gerechtfertigt gewesen, den anlassgebenden Missstand von besonders gesteigerter gesellschaftlicher Bedeutung an einem konkreten Beispiel fassbar und plastisch zu machen.

Geringeres Interesse an Verdachtsarchivierung: Eingriffssteigernd sei gegenüber unstrittig wahrhafter Tatsachenberichterstattung, dass der Verdacht durch Pressearchive dauerhaft aufrechterhalten bleibe, obwohl er ggf. nicht den Tatsachen entspreche oder inzwischen ausgeräumt worden sei, ohne dass der Betroffene den Verdacht hervorgerufen habe oder etwas dagegen unternehmen könne. Auch könne ggf. das öffentliche Interesse am Bereithalten einer Verdachtsberichterstattung geringer sein als an dem einer Tatsachenberichterstattung.

Strengere Vorgaben für Erstveröffentlichung: Andererseits sei bei einer Verdachtsberichterstattung in Rechnung zu stellen, dass bereits deren ursprüngliche Zulässigkeit wegen der Gefahr eines hinzunehmenden fortdauernden Makels strengeren fachrechtlichen Maßstäben unterliege, die ein besonders gesteigertes Berichterstattungsinteresse, Stellungnahmemöglichkeit und das Verbot vorverurteilender Berichterstattung umfassten (vgl. hierzu BGH v. 7.12.1999 – VI ZR 51/99, Rz. 17 f., AfP 2000, 167).

Klarstellender Nachtrag: Bei der Interessenabwägung seien im Sinne praktischer Konkordanz auch vermittelnde Lösungen zu erwägen. Hierzu könne ausnahmsweise auch ein klarstellender Nachtrag über den Ausgang rechtlich formalisierter Verfahren wie Disziplinarverfahren, strafrechtlicher Ermittlungs- oder Hauptsacheverfahren gehören, solange der Presse wegen ihrer Wahlfreiheit bzgl. der Berichterstattungsgegenstände und mangelnden Verpflichtung zu neuerlichen Nachforschungen und Bewertungen hierbei nur eine sachlich-distanzierte Mitteilung abverlangt werde.

Tatverdachtsbezug: Dies sei der Fall bei einem Freispruch sowie der Einstellung oder Nichteinleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, sofern diese auf unzureichendem Tatverdacht beruhten. Aus Einstellung oder Nichteinleitung ergebe sich dies nicht per se, da diese auf einen Tatverdacht nicht in Frage stellenden Gründen beruhen könnten (z.B. Verjährung, Beweisnot, Priorisierungsentscheidung), für die die Presse keine Nachforschungspflicht treffe. Vorliegend habe sich aus dem vom Unternehmensberater vorgelegten Schreiben der Staatsanwaltschaft lediglich ergeben, dass ein Ermittlungsverfahren nicht eingeleitet worden sei, ohne dass dies auf den Verdacht widerlegenden Umständen beruht hätte.


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