EGMR, Urt. 17.10.2019 - Beschwerde-Nr. 1874/13, 8567/13

Zulässigkeit einer heimlichen Videoüberwachung bei Diebstahlsverdacht

Autor: RA FAArbR Dr. Detlef Grimm, Loschelder, Köln
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 02/2020
Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) ist auf die Videoüberwachung im öffentlichen Raum anwendbar. Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass Überwachungsmaßnahmen des Arbeitgebers verhältnismäßig und von angemessenen und ausreichenden Garantien gegen Missbrauch begleitet sind. Dabei muss nach den Orten unterschieden werden, an denen die Videoüberwachung stattgefunden hat. Die Unterlassung der Information über die Überwachung kann nur durch überwiegende Erfordernisse des Schutzes öffentlicher oder wichtiger Privatinteressen gerechtfertigt werden. Ohne Information sind andere Garantien von größerer Bedeutung. Der berechtigte Verdacht schwerwiegender Straftaten mit hohem Schaden kann eine heimliche Videoüberwachung rechtfertigen.

EMRK Art. 6, 8, 43; BDSG § 26 Abs. 1

Das Problem

Nachdem in einem Supermarkt Warenverluste im Wert von gut 82.000 € in fünf Monaten eingetreten waren, hatte der Arbeitgeber offen und versteckt Überwachungskameras angebracht. Die Arbeitnehmer hatte er über die sichtbaren Kameras informiert, nicht hingegen über die versteckten. Drei der Beschwerdeführerinnen konnten den ganzen Tag gefilmt werden, die zwei weiteren, wenn sie an den Kassen vorbeikamen.

Der Arbeitgeber hat 14 Arbeitnehmer – auch die Beschwerdeführerinnen – des Ladendiebstahls überführt. Drei Beschwerdeführerinnen hatten Aufhebungsverträge unterzeichnet. Alle Beschwerdeführerinnen haben gegen die Kündigung bzw. Wirksamkeit der Aufhebungsverträge geklagt und sich gegen die Verwendung der heimlich aufgenommenen Videoaufnahmen zur Überführung der Ladendiebstähle gewandt. Die spanischen Arbeitsgerichte haben die Klagen abgewiesen.

Die Beschwerdeführerinnen rügen eine Verletzung des Rechts auf Privatleben (Art. 8 EMRK) und des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK.

Die Entscheidung des Gerichts

Art. 8 EMRK ist nach Ansicht des EGMR auf die systematische und dauerhafte Videoüberwachung der Angestellten eines Supermarktes und die anschließende Verwendung der gespeicherten Bänder, mithin auch im öffentlichen Raum anwendbar. Die Beschwerdeführerinnen hätten grds. erwarten können, dass sie ohne vorherige Unterrichtung nicht mit versteckten Kameras gefilmt würden.

Beeinträchtigungen des Rechts der Arbeitnehmer auf Achtung des Privatlebens müssten verhältnismäßig und von angemessenen und ausreichenden Garantien gegen Missbrauch begleitet sein. Dabei müssten die unterschiedlichen und widerstreitenden Interessen berücksichtigt werden. Arbeitnehmer müssten im Regelfall von Überwachungsmaßnahmen unterrichtet werden. Dies stelle eine angemessene Schutzmaßnahme dar, weil sich die Betroffenen gegen eine unzulässige Überwachung wenden könnten.

Wie die Privatsphäre am Arbeitsplatz zu schützen sei, sei ortabhängig. Bei der Videoüberwachung müsse daher unterschieden werden, wo sie stattgefunden habe. In Toiletten oder Garderoben sei z.B. ein höherer Schutz oder sogar ein völliges Verbot der Videoüberwachung gerechtfertigt. Die Erwartung auf Schutz vor (verdeckter) Videoüberwachung sei auch in geschlossenen Arbeitsbereichen wie Büros hoch. Niedriger sei diese Erwartung an Orten, die von anderen Arbeitnehmern eingesehen werden könnten, zu denen andere Arbeitnehmer Zugang hätten oder an Arbeitsplätzen, die – wie hier – für die Öffentlichkeit zugänglich seien und bei denen ständig Kontakt mit dem Publikum bestehe.

Der EGMR stellt dann aber fest, dass eine verdeckte Videoüberwachung nur durch „überwiegende Erfordernisse des Schutzes öffentlicher oder wichtiger privater Interessen des Unternehmens“ gerechtfertigt werden kann.

Im Streitfall sei der Eingriff in das Privatleben der Beschwerdeführerinnen verhältnismäßig gewesen, weil ein berechtigter und substantiierter Verdacht schwerwiegender Straftaten vorgelegen habe und zugleich der Umfang der festgestellten Verluste die Videoüberwachung gerechtfertigt habe. Nicht nur der reibungslose Betrieb des Unternehmens sei durch den Verdacht von Straftaten gefährdet, sondern auch das Arbeitsklima. Die Überwachung habe zudem nur zehn Tage angedauert. Andere Überwachungsmöglichkeiten hätten nicht bestanden.

Nicht schon jeder geringe Verdacht von Unterschlagungen oder anderen Straftaten durch Arbeitnehmer berechtige den Arbeitgeber zur geheimen Videoüberwachung. Es komme auf die – hier zu bejahende – Schwere der Straftat und/oder den Umfang des Schadens an, letzteres vor allem beim Diebstahl zu Lasten des Arbeitgebers.


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