Autor: DirAG Dr. Michael Giers, Neustadt a. Rbge.
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 01/2016
1. Die Entziehung des Sorgerechts zur Trennung des Kindes von seinen Eltern ist nur bei einer Gefährdung des Kindeswohls zulässig, wobei an die Annahme einer Kindeswohlgefährdung hohe Anforderungen zu stellen sind. Erforderlich ist eine nachhaltige Gefährdung des Kindes in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl.2. Erfolgt die Sorgerechtsentziehung im Eilverfahren, so unterliegt auch die Verfahrensgestaltung spezifischen verfassungsrechtlichen Anforderungen. So sind hier die Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung umso höher, je geringer der möglicherweise eintretende Schaden des Kindes wiegt, in je größerer zeitlicher Ferne der zu erwartende Schadenseintritt liegt und je weniger wahrscheinlich dieser ist.
BVerfG, Beschl. v. 29.9.2015 - 1 BvR 1292/15
Vorinstanz: OLG Hamm, Beschl. v. 6.5.2015 - II-1 UF 35/15
GG Art. 6 Abs. 2 S. 1; BGB §§ 1666 Abs. 1, 1666a Abs. 1 Das Problem
Die getrennt lebenden Eltern streiten u.a. um das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihren im Jahr 2002 ehelich geborenen Sohn, der im Haushalt der Mutter lebt. Das AG beauftragte im Hauptsacheverfahren einen Sachverständigen und bestellte einen Verfahrensbeistand. Nachdem dieser mitgeteilt hatte, dass das Kind in der Schule überhaupt nicht zurechtkomme, seine Lebenssituation eine „einzige Katastrophe” sei und sich die Situation noch zu verschlimmern drohe, weil die Mutter kurzfristig nach Berlin ziehen wolle, entzog das AG den Eltern im Wege der einstweiligen Anordnung gem. §§ 1666, 1666a BGB u.a. das Aufenthaltsbestimmungsrecht und bestellte einen Ergänzungspfleger, der das Kind allerdings in der Obhut der Mutter beließ. Diese wendet sich, nachdem ihre Beschwerde gegen die einstweilige Anordnung keinen Erfolg hatte, mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidungen des AG und des OLG. Das BVerfG hat mit Beschl. v. 23.6.2015 – 1 BvR 1292/15, FamRB 2015, 342 (Giers) die Vollziehung der einstweiligen Anordnung insoweit ausgesetzt, als der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht auch für den Fall entzogen wurde, dass sie mit ihrem Sohn an ihrem bisherigen Wohnort verbleibt. Die Entscheidung des Gerichts
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen und festgestellt, dass der Beschluss des OLG nicht mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar ist, soweit die Beschwerde der Mutter gegen den Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts zurückgewiesen wird. In den Gründen bezieht sich das BVerfG zunächst auf seine Entscheidung v. 7.4.2014 – 1 BvR 3121/13, FamRZ 2014, 907 = FamRB 2014, 555 (Giers). Danach gelten besondere verfassungsrechtliche Anforderungen, wenn eine Sorgerechtsentziehung im Eilverfahren aufgrund einer lediglich summarischen Prüfung angeordnet werden soll. Hier lässt sich dem Beschluss des OLG nicht hinreichend deutlich entnehmen, dass das Wohl des Kindes im Zeitpunkt der Entscheidung im Fall des Verbleibs im mütterlichen Haushalt noch nachhaltig gefährdet und eine Fremdunterbringung des Kindes erforderlich war. Dagegen spricht bereits, dass sich nach den Mitteilungen der Verfahrensbeteiligten deutliche Verbesserungen im Sozialverhalten und im Leistungsbild des Kindes gezeigt haben, seit das Kind die private Ergänzungsschule besucht, obwohl sich dieses durchgehend in der Obhut der Mutter befand. Ferner ist die Entscheidung des Ergänzungspflegers zu berücksichtigen, das Kind in der Obhut der Mutter zu belassen. Da es in dem Zeitraum zwischen der letzten Entscheidung des AG im Januar 2015 und derjenigen des OLG im Mai 2015 zu einer deutlichen Verbesserung der Situation des Kindes gekommen war, hätte das OLG eine weitere Sachverhaltsaufklärung, z.B. eine erneute Anhörung, vornehmen und prüfen müssen, ob unter den seit dem angefochtenen Beschluss veränderten Umständen eine Fremdunterbringung tatsächlich noch zwingend erforderlich ist. Die evtl. noch bestehende Gefahr eines das Kindeswohl erneut gefährdenden Wegzugs der Mutter würde den vollständigen Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts nicht rechtfertigen; insoweit würden eine Beschränkung oder ein bloßer Teilentzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts gem. § 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB genügen.