EuGH, Beschl. 10.4.2018 - C-85/18 PPU
Internationale Zuständigkeit bei widerrechtlicher Kindesentführung
Autor: RiOLG Jörg Michael Dimmler, Stuttgart
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 10/2018
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 10/2018
Auch wenn das entführte Kind im Entführungsstaat einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat, bleiben die Gerichte des ursprünglichen Mitgliedstaats für die Sorge- und Unterhaltsentscheidung international zuständig, sofern es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass der andere mitsorgeberechtigte Elternteil dem Verbringen des Kindes zugestimmt, bzw. er keinen Rückführungsantrag gestellt hat.
EuGH, Beschl. v. 10.4.2018 - C-85/18 PPU
HKÜ Art. 3; VO (EG) Nr. 2201/2003 Art. 8, Art. 10; VO (EG) Nr. 4/2009 Art. 3 lit. d
Unter Bezugnahme auf seine vormalige Rechtsprechung (EuGH v. 1.7.2010 – C-211/10 – Povse, FamRZ 2010, 1229 = FamRBint 2010, 83 [Niethammer-Jürgens/Helm]) stellt der EuGH fest, dass sich das rumänische Gericht nur im Fall des Vorliegens der besonderen, eng auszulegenden Voraussetzungen des Art. 10 VO (EG) Nr. 2201/2003 für zuständig erklären dürfe, sofern das Kind in Rumänien bereits einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt haben sollte. Nach dieser Vorschrift sind die Gerichte des ursprünglichen Mitgliedstaats, aus dessen Hoheitsgebiet das Kind widerrechtlich entführt worden ist, nur dann nicht mehr zuständig, wenn alle maßgeblich sorgeberechtigten Personen oder Behörden entweder einem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt haben oder aber bei mindestens einjährigem Aufenthalt und dessen (möglicher) Kenntnis bei Einleben des Kindes einer der Bedingungen der Unterziffern i–iv des Buchstaben b, insbesondere fehlender Rückgabeantrag bzw. Zurückweisung des Antrags, erfüllt sind. Daher sind weiterhin portugiesische Gerichte, auch – unter Bezugnahme auf die Entscheidung vom 12.11.2014 (EuGH v. 12.11.2014 – C-656/13, FamRZ 2015, 205 Rz. 35 = FamRBint 2015, 96) – für die unterhaltsrechtlichen Fragen als Nebensache i.S.v. Art. 3 lit. d VO (EG) Nr. 4/2009, zuständig, nachdem die Mutter dem widerrechtlichen Verbringen nicht zugestimmt und auch eine spätere Genehmigung infolge des vor Ablauf eines Jahres seit dem widerrechtlichen Verbringen in Rumänien gestellten Rückführungsantrags nicht vorgelegen hatte und schließlich portugiesische Gerichte auch keine Sorgerechtsentscheidung erlassen haben, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet worden ist.
EuGH, Beschl. v. 10.4.2018 - C-85/18 PPU
HKÜ Art. 3; VO (EG) Nr. 2201/2003 Art. 8, Art. 10; VO (EG) Nr. 4/2009 Art. 3 lit. d
Das Problem
Aus der Beziehung zweier in Portugal lebender rumänischer Staatsangehöriger ist ein 2010 geborenes Kind, das die portugiesische Staatsangehörigkeit besitzt, hervorgegangen. Nach im Juli 2015 erfolgter Trennung verblieb das Kind im Haushalt des Vaters. Die Eltern übten die gemeinsame elterliche Sorge nach portugiesischem Recht weiterhin aus. Am 11.4.2016 beantragte die Mutter bei einem portugiesischem Gericht das alleinige Sorgerecht. Ohne Zustimmung der Mutter begab sich der Vater mit dem Sohn am 25.4.2016 nach Rumänien. Der Mutter wurde am 15.6.2016 in Portugal vorläufig das Sorgerecht zugesprochen. Am 4.4.2017 begehrte die Mutter in Rumänien die Rückführung wegen einer widerrechtlichen Kindesentführung nach den Vorschriften des HKÜ. Das LG Bukarest, dessen Entscheidung das Berufungsgericht in Bukarest am 16.6.2017 bestätigte, ordnete aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in Portugal und der widerrechtlichen Entführung die Rückführung an. Ungeachtet des laufenden Rückführungsverfahrens begehrte der Vater am 21.4.2017 beim Gericht erster Instanz von Ordea in Rumänien mit der Begründung des lediglich sporadischen Kontakts der Mutter zum Kind und ausbleibender Unterhaltszahlungen die Bestimmung des Aufenthaltsorts des Kindes am Wohnsitz des Vaters in Rumänien sowie die Verurteilung der Mutter zur Zahlung von Unterhalt. Die Mutter hat die internationale Unzuständigkeit rumänischer Gerichte gerügt. Das vorlegende rumänische Gericht in Ordea hat den EuGH zur Auslegung des Art. 8 VO (EG) Nr. 2201/2003 (Brüssel IIa-VO/EuEheVO) angerufen.Die Entscheidung des Gerichts
Der EuGH, der das Verfahren nach Art. 107 Abs. 3 seiner Verfahrensordnung dem Eilverfahren unterworfen hat, hat die Fragestellung des vorlegenden Gerichts umformuliert. Sinngemäß wolle das vorlegende rumänische Gericht wissen, ob sowohl Art. 10 VO (EG) Nr. 2201/2003 hinsichtlich des Sorgerechts als auch Art. 3 VO (EG) Nr. 4/2009 (EuUntVO) in Bezug auf unterhaltsrechtliche Fragen dahin auszulegen sind, dass die Gerichte infolge des Verbringens aufgrund einer sozialen und familiären Integration in das Umfeld dieses Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit beide Elternteile besitzen, zuständig sind, obwohl das Mitgliedstaatsgericht des vormaligen gewöhnlichen Aufenthalts eine Sorgerechtsentscheidung zugunsten des in diesem Mitgliedstaat verbleibenden Elternteils getroffen hat.Unter Bezugnahme auf seine vormalige Rechtsprechung (EuGH v. 1.7.2010 – C-211/10 – Povse, FamRZ 2010, 1229 = FamRBint 2010, 83 [Niethammer-Jürgens/Helm]) stellt der EuGH fest, dass sich das rumänische Gericht nur im Fall des Vorliegens der besonderen, eng auszulegenden Voraussetzungen des Art. 10 VO (EG) Nr. 2201/2003 für zuständig erklären dürfe, sofern das Kind in Rumänien bereits einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt haben sollte. Nach dieser Vorschrift sind die Gerichte des ursprünglichen Mitgliedstaats, aus dessen Hoheitsgebiet das Kind widerrechtlich entführt worden ist, nur dann nicht mehr zuständig, wenn alle maßgeblich sorgeberechtigten Personen oder Behörden entweder einem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt haben oder aber bei mindestens einjährigem Aufenthalt und dessen (möglicher) Kenntnis bei Einleben des Kindes einer der Bedingungen der Unterziffern i–iv des Buchstaben b, insbesondere fehlender Rückgabeantrag bzw. Zurückweisung des Antrags, erfüllt sind. Daher sind weiterhin portugiesische Gerichte, auch – unter Bezugnahme auf die Entscheidung vom 12.11.2014 (EuGH v. 12.11.2014 – C-656/13, FamRZ 2015, 205 Rz. 35 = FamRBint 2015, 96) – für die unterhaltsrechtlichen Fragen als Nebensache i.S.v. Art. 3 lit. d VO (EG) Nr. 4/2009, zuständig, nachdem die Mutter dem widerrechtlichen Verbringen nicht zugestimmt und auch eine spätere Genehmigung infolge des vor Ablauf eines Jahres seit dem widerrechtlichen Verbringen in Rumänien gestellten Rückführungsantrags nicht vorgelegen hatte und schließlich portugiesische Gerichte auch keine Sorgerechtsentscheidung erlassen haben, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet worden ist.