EuGH, Urt. 12.5.2022 - C-644/20
Anwendbares Unterhaltsrecht bei einer widerrechtlichen Kindesentführung
Autor: RiOLG Jörg Michael Dimmler, Stuttgart
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 07/2022
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 07/2022
Allein der Umstand einer widerrechtlichen Kindesentführung schließt die Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts wegen eines laufenden Unterhaltsverfahrens nicht aus.
VO (EG) Nr. 2201/2003 Art. 10; VO (EG) Nr. 4/2009 Art. 5, 15; Haager Unterhaltsprotokoll v. 23.11.2007 (HUP) Art. 3 Abs. 1, Abs. 2
Bereits Anfag November 2018 hatten die Kinder, vertreten durch die Mutter, beim Rayonsgericht Piła die Zahlung monatlichen Unterhalts begehrt. Der Vater hatte sich rügelos eingelassen. Das polnische Gericht verpflichtete den Vater mit Urteil vom 11.4.2019 zur Zahlung monatlichen Unterhalts ab Anfang November 2018. Gegen dieses Urteil legte der Vater gleichfalls Berufung beim Bezirksgericht Poznań ein. Die Verpflichtung der Mutter zur Rückführung des Kindes entziehe der Verpflichtung zur Zahlung von Unterhalt ihre Rechtfertigung. Das Bezirksgericht Poznań hat den EuGH zur Vorabentscheidung hinsichtlich des auf den Unterhalt anwendbaren Rechts angerufen. Sofern die Kindesmutter einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in Polen habe begründen können, sei polnisches Recht über Art. 3 Abs. 2 des Haager Unterhaltsprotokolls vom 23.11.2007 (HUP) und nicht britisches Recht über Art. 3 Abs. 1 HUP anzuwenden.
VO (EG) Nr. 2201/2003 Art. 10; VO (EG) Nr. 4/2009 Art. 5, 15; Haager Unterhaltsprotokoll v. 23.11.2007 (HUP) Art. 3 Abs. 1, Abs. 2
Das Problem
Aus der Beziehung zweier polnischer Staatsangehöriger, die sich seit mindestes 2012 im Vereinigten Königreich aufhalten und dort auch einer Erwerbstätigkeit nachgehen, sind zwei im Juni 2015 bzw. Mai 2017 geborene Kinder hervorgegangen, die die polnische und britische Staatsangehörigkeit besitzen. Gegen den Willen des polnischen Vaters hat die Mutter die Kinder widerrechtlich nach Polen entführt. Die Mutter und die Kinder befinden sich noch heute dort. Den Anfang Januar 2018 gestellten HKÜ-Rückführungsantrag hat das Rayongericht Pila zurückgewiesen. Mit Beschluss vom 24.5.2019 hat das mit der Berufung befasste Bezirksgericht die Mutter zur Rückführung der Kinder bis Ende Juni 2019 verpflichtet; dieser Beschluss ist vom Obersten Gericht in Polen am 6.10.2021 teilweise aufgehoben worden. Die Rückführung ist bis heute nicht erfolgt, da die Mutter mit den Kindern unbekannten Aufenthalts ist.Bereits Anfag November 2018 hatten die Kinder, vertreten durch die Mutter, beim Rayonsgericht Piła die Zahlung monatlichen Unterhalts begehrt. Der Vater hatte sich rügelos eingelassen. Das polnische Gericht verpflichtete den Vater mit Urteil vom 11.4.2019 zur Zahlung monatlichen Unterhalts ab Anfang November 2018. Gegen dieses Urteil legte der Vater gleichfalls Berufung beim Bezirksgericht Poznań ein. Die Verpflichtung der Mutter zur Rückführung des Kindes entziehe der Verpflichtung zur Zahlung von Unterhalt ihre Rechtfertigung. Das Bezirksgericht Poznań hat den EuGH zur Vorabentscheidung hinsichtlich des auf den Unterhalt anwendbaren Rechts angerufen. Sofern die Kindesmutter einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in Polen habe begründen können, sei polnisches Recht über Art. 3 Abs. 2 des Haager Unterhaltsprotokolls vom 23.11.2007 (HUP) und nicht britisches Recht über Art. 3 Abs. 1 HUP anzuwenden.