EuGH, Urt. 15.11.2022 - C 646/20
Anerkennung einer einvernehmlichen italienischen Ehescheidung
Autor: RiOLG Jörg Michael Dimmler, Stuttgart
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 01/2023
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 01/2023
Eine von einem italienischen Standesbeamten errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung enthält, die sie vor dem Standesbeamten nach den in den maßgeblichen Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen bestätigt haben, stellt eine anerkennungsfähige „Entscheidung“ i.S.v. Art. 2 Nr. 4 VO (EG) Nr. 2201/2003 dar.
VO (EG) Nr. 2201/2003 Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Nr. 4, Art. 21 Abs. 1
Die beteiligten Ehegatten, die in Italien leben, schlossen 2013 vor dem Standesamt Berlin/Mitte die Ehe. Die Ehefrau ist deutsche und italienische Staatsangehörige, der Ehemann besitzt die italienische Staatsangehörigkeit. Aus der Ehe sind keine Kinder hervorgegangen. Am 30.3.2017 erschienen die Eheleute vor dem Standesamt in Parma und erklärten die einvernehmliche Trennung, die sie am 11.5.2017 persönlich bestätigten. Am 15.2.2018 nahmen die Eheleute vor dem Standesamt in Parma auf ihre Erklärungen vom 30.3.2017 Bezug und wünschten die Auflösung ihrer Ehe. Nach am 26.4.2018 erfolgter erneuter Bestätigung ihrer am 15.2.2018 abgegebenen Erklärungen stellte das Standesamt der Ehefrau am 2.7.2018 eine Bescheinigung nach Art. 39 VO (EG) Nr. 2201/2003 (= Brüssel IIa-VO) aus, in der die Scheidung der Ehe mit Wirkung vom 15.2.2018 bestätigt wird. Die Ehefrau begehrt die Beurkundung der Scheidung im deutschen Eheregister. Das Standesamt Mitte von Berlin ist der Auffassung, eine Beurkundung setze die vorherige Anerkennung nach § 107 FamFG voraus. Entgegen der Auffassung des AG Schöneberg hat das KG das Standesamt angewiesen, die Fortführung des Eheregistereintrags nicht von der vorherigen förmlichen Anerkennung der in Italien erfolgten Scheidung abhängig zu machen. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde begehrt die Standesamtsaufsicht die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Entscheidung.
Der BGH (BGH v. 28.10.2020 – XII ZB 187/20, FamRZ 2021, 119 m. Anm. Mayer = FamRB 2021, 2 [Dimmler]) möchte vom EuGH geklärt wissen, ob die VO (EG) Nr. 2201/2003 auf italienische Scheidungen auf der Grundlage von Art. 12 des Gesetzesdekrets Nr. 132/2014 anzuwenden ist, bei denen nicht ein konstitutiver Akt die Scheidung bewirkt, sondern die übereinstimmenden Erklärungen der Ehegatten zur Eheauflösung führen.
Ergänzend hat der EuGH für seine Auslegung den 14. Erwägungsgrund der ab dem 1.8.2022 geltenden VO (EU) Nr. 2019/1111 (= Brüssel IIb-VO) herangezogen, wonach der Unionsgesetzgeber unter dem Blickwinkel der Kontinuität und Präzisierung der bestehenden Regelungen klar zum Ausdruck gebracht hat, dass Ehescheidungsvereinbarungen, die von einem Gericht oder einer nicht gerichtlichen Behörde nach einer Prüfung in der Sache nach dem nationalen Recht und nach dem nationalen Verfahren gebilligt wurden, „Entscheidungen“ i.S.d. Art. 2 Nr. 4 VO (EG) Nr. 2201/2003 und der an seine Stelle getretenen Bestimmungen der neuen VO (EU) Nr. 2019/1111 darstellen und dass es gerade diese Prüfung in der Sache ist, die diese Entscheidungen von den öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen im Sinne dieser Verordnungen unterscheidet.
VO (EG) Nr. 2201/2003 Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Nr. 4, Art. 21 Abs. 1
Das Problem
Der BGH hat den EuGH zur Vorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV angerufen. Gegenstand der Vorlage ist die Frage der Anerkennungsfähigkeit einer einvernehmlichen italienischen Scheidung, die der Standesbeamte vorgenommen hat. Nach Art. 12 des italienischen Gesetzesdekrets Nr. 132 über Dringlichkeitsmaßnahmen zur außergerichtlichen Streitbeilegung und sonstige Maßnahmen zur Auflösung der Rückstände bei der Bearbeitung von Zivilverfahren vom 12.9.2014 können die Ehegatten vor dem zuständigen Standesbeamten u.a. eine Vereinbarung über die Auflösung und Beendigung der zivilen Wirkungen der Ehe schließen, sofern sie weder minderjährige Kinder noch volljährige geschäftsunfähige, schwerbehinderte oder wirtschaftlich unselbständige Kinder haben. Art. 12 Abs. 3 Gesetzesdekret Nr. 132/2014 regelt das Verfahren vor dem Standesbeamten, wobei die Vereinbarung insbesondere keine Regelungen über die Übertragung von Vermögenswerten enthalten darf.Die beteiligten Ehegatten, die in Italien leben, schlossen 2013 vor dem Standesamt Berlin/Mitte die Ehe. Die Ehefrau ist deutsche und italienische Staatsangehörige, der Ehemann besitzt die italienische Staatsangehörigkeit. Aus der Ehe sind keine Kinder hervorgegangen. Am 30.3.2017 erschienen die Eheleute vor dem Standesamt in Parma und erklärten die einvernehmliche Trennung, die sie am 11.5.2017 persönlich bestätigten. Am 15.2.2018 nahmen die Eheleute vor dem Standesamt in Parma auf ihre Erklärungen vom 30.3.2017 Bezug und wünschten die Auflösung ihrer Ehe. Nach am 26.4.2018 erfolgter erneuter Bestätigung ihrer am 15.2.2018 abgegebenen Erklärungen stellte das Standesamt der Ehefrau am 2.7.2018 eine Bescheinigung nach Art. 39 VO (EG) Nr. 2201/2003 (= Brüssel IIa-VO) aus, in der die Scheidung der Ehe mit Wirkung vom 15.2.2018 bestätigt wird. Die Ehefrau begehrt die Beurkundung der Scheidung im deutschen Eheregister. Das Standesamt Mitte von Berlin ist der Auffassung, eine Beurkundung setze die vorherige Anerkennung nach § 107 FamFG voraus. Entgegen der Auffassung des AG Schöneberg hat das KG das Standesamt angewiesen, die Fortführung des Eheregistereintrags nicht von der vorherigen förmlichen Anerkennung der in Italien erfolgten Scheidung abhängig zu machen. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde begehrt die Standesamtsaufsicht die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Entscheidung.
Der BGH (BGH v. 28.10.2020 – XII ZB 187/20, FamRZ 2021, 119 m. Anm. Mayer = FamRB 2021, 2 [Dimmler]) möchte vom EuGH geklärt wissen, ob die VO (EG) Nr. 2201/2003 auf italienische Scheidungen auf der Grundlage von Art. 12 des Gesetzesdekrets Nr. 132/2014 anzuwenden ist, bei denen nicht ein konstitutiver Akt die Scheidung bewirkt, sondern die übereinstimmenden Erklärungen der Ehegatten zur Eheauflösung führen.
Die Entscheidung des Gerichts
Entgegen der vom BGH geäußerten Rechtsauffassung entscheidet der EuGH, dass eine von einem italienischen Standesbeamten errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung enthält, die sie vor dem Standesbeamten getreu den in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen bestätigt haben, eine „Entscheidung“ i.S.v. Art. 2 Nr. 4 VO (EG) Nr. 2201/2003 darstellt. Damit ist der Anwendungsbereich der Art. 21 ff. VO (EG) Nr. 2201/2003 für die automatische Anerkennung eröffnet. Aus der weiten und offenen Auslegung der Verordnung und unter Berücksichtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens, namentlich der erleichterten Anerkennung von Ehescheidungen, folgt, dass unter den Begriff der „Entscheidung“, die von einem Gericht oder einer Behörde erlassen wird und ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung, auch eine solche Entscheidung fallen kann, die in einem außergerichtlichen Verfahren erfolgt. Allerdings muss jede Behörde eine Prüfung der Scheidungsvoraussetzungen – in Abgrenzung zu einem zwischen den Beteiligten geschlossenen Vergleich, den das Gericht ohne inhaltliche Prüfung lediglich zur Kenntnis nimmt – anhand des nationalen Rechts vornehmen. Nach italienischem Recht hat sich danach der Standesbeamte zu vergewissern, dass das Einvernehmen der zu scheidenden Eheleute vorliegt und auch die sonstigen Gültigkeitsvoraussetzungen vorliegen. Erst aufgrund dieser eingehenden Prüfungsverpflichtung kann der Standesbeamte eine rechtsverbindliche Scheidung aussprechen, die eine Entscheidung i.S.d. Art. 2 Nr. 4 VO (EG) Nr. 2201/2003 darstellt.Ergänzend hat der EuGH für seine Auslegung den 14. Erwägungsgrund der ab dem 1.8.2022 geltenden VO (EU) Nr. 2019/1111 (= Brüssel IIb-VO) herangezogen, wonach der Unionsgesetzgeber unter dem Blickwinkel der Kontinuität und Präzisierung der bestehenden Regelungen klar zum Ausdruck gebracht hat, dass Ehescheidungsvereinbarungen, die von einem Gericht oder einer nicht gerichtlichen Behörde nach einer Prüfung in der Sache nach dem nationalen Recht und nach dem nationalen Verfahren gebilligt wurden, „Entscheidungen“ i.S.d. Art. 2 Nr. 4 VO (EG) Nr. 2201/2003 und der an seine Stelle getretenen Bestimmungen der neuen VO (EU) Nr. 2019/1111 darstellen und dass es gerade diese Prüfung in der Sache ist, die diese Entscheidungen von den öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen im Sinne dieser Verordnungen unterscheidet.