EuGH, Urt. 17.6.2021 - C-597/19

Öffentliche Zugänglichmachung von Dateisegmenten per Peer-to-Peer

Autor: RA Markus Rössel, LL.M. (Informationsrecht), Köln
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 09/2021
Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. f DSGVO i.V.m. Art. 15 Abs. 1 RL 2002/58/EG verbietet weder dem Rechteinhaber noch seinem Auftragnehmer die Speicherung von IP-Adressen urheberrechtsverletzender Nutzer von P2P-Netzen noch die Übermittlung der sie identifizierenden Bestandsdaten des Accessproviders zwecks Schadensersatzklage, wenn die dahingehenden Maßnahmen gerechtfertigt, verhältnismäßig und nicht missbräuchlich sind und ihre Rechtsgrundlage in einer Rechtsvorschrift i.S.v. Art. 15 Abs. 1 RL 2002/58/EG haben, die die Tragweite der Artt. 5, 6 RL 2002/58/EG beschränkt.

GRC Artt. 7, 8, 17 Abs. 2, 47 Abs. 1; RL 2001/29/EG Art. 3 Abs. 1, Abs. 2; RL 2004/48/EG Artt. 3 Abs. 2, 4, 8, 13; DSGVO Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. f; RL 2002/58/EG Art. 15 Abs. 1

Das Problem

Ein BitTorrent-Client für P2P-File-Sharing lädt für seinen Nutzer Dateien nicht nur herunter, sondern nach den deaktivierbaren Voreinstellungen Segmente dieser Dateien für andere Nutzer parallel auch herauf („seeden“), die daraus gemeinsam mit Segmenten aus anderen Quellen ihres „Schwarms“ die Datei zusammensetzen können. Im Auftrag eines zypriotischen Inkassounternehmens speichert ein deutsches Unternehmen mit der Software FileWatchBT IP-Adressen der Uploader, die Urheberrechte an Pornofilmen US-amerkanischer und kanadischer Filmproduzenten verletzen, um pauschalierten Schadensersatz von 500 € geltend machen zu können, wenn jeweils Segmente im Umfang von mind. 20 % der Datei heraufgeladen wurden. Ein belgischer Accessprovider verweigert jedoch den identifizierenden Abgleich seiner Bestandsdaten mit den zu maßgeblichen Zeitpunkten den Nutzern zugewiesenen dynamischen IP-Adressen.

Die Entscheidung des Gerichts

Die Speicherung von IP-Adressen von Nutzern und die Übermittlung ihrer Namen und Anschriften an den Inhaber geistiger Rechte oder an einen Dritten, um die Erhebung einer Schadensersatzklage zu ermöglichen, sei unter bestimmten Voraussetzungen zulässig.

Keine Bagatellgrenze für Segmente: Selbst wenn es einem Nutzer nicht gelänge, die vollständige Originaldatei herunterzuladen, ändere dies nichts daran, dass er seinen Peers einzelne heruntergeladene Segmente dieser Datei per Upload zur Verfügung stelle und somit dazu beitrage, dass letztlich alle Nutzer im Schwarm Zugriff auf die vollständige Datei hätten. Für die Feststellung, ob in einer solchen Situation eine Zugänglichmachung i.S.v. Art. 3 Abs. 1, 2 InfoSoc-RL 2001/29/EG vorliege, bedürfe es somit keines Nachweises, dass der betreffende Nutzer zuvor eine Mindestmenge an Segmenten heruntergeladen habe (Rz. 45 f.).

Unerheblichkeit hochladender Voreinstellung: Das vorlegende Gericht habe zu prüfen, ob die Nutzer der Anwendung der Software nach ordnungsgemäßer Information über ihre Funktion aktiv zugestimmt und damit vorsätzlich gehandelt hätten. In diesem Fall werde die Vorsätzlichkeit ihres Verhaltens nicht dadurch widerlegt, dass das deaktivierbare gleichzeitige Hochladen wegen der Voreinstellung der Software unbemerkt automatisch erfolge (Rz. 47 ff., 59).

Öffentlichkeit der Zugänglichmachung: Die Bereitstellung einer Filesharing-Plattform per P2P mit Suchmaschine zu geschützten Werken stelle eine öffentliche Wiedergabe i.S.v. Art. 3 Abs. 1 RL 2001/29/EG dar (EuGH v. 14.6.2017 – C-610/15 – Stichting Rz. 48, CR 2017, 813). Das P2P-Netzwerk könne von einer potentiell unbestimmten Zahl recht vieler Personen jederzeit und gleichzeitig genutzt werden (Rz. 50–54).

Stets neues Publikum: Auch wenn im Einzelfall betroffene Werke auf einer Website ohne beschränkende Maßnahmen mit Zustimmung des Rechtsinhabers veröffentlicht worden seien, erfolge eine Zugänglichmachung für ein vom Rechteinhaber bei der gestatteten ursprünglichen Veröffentlichung nicht intendiertes neues Publikum (vgl. EuGH v. 7.8.2018 – C-161/17 – Renckhoff Rz. 46 f., CR 2018, 654 = ITRB 2018, 248), denn widrigenfalls fehle es i.S.d. Erwgrd. 3, 31 RL 2001/29/EG am angemessenen Ausgleich der Artt. 11, 17 Abs. 2 GRC unter Berücksichtigung des beabsichtigten hohen Schutzniveaus i.S.v. Erwgrd. 4, 9, 10 RL 2001/29/EG (Rz. 56 ff.).

Klagebefugnis: Die in Kap. II der Enforcement-RL 2004/48/EG vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe stünden den in Art. 4 lit. a bis d RL 2004/48/EG Angeführten zu. Im Unterschied zu den klagebefugten gesetzlichen oder vertraglichen Rechteinhabern nach Art. 4 lit. a RL 2004/48/EG müssten die klagebefugten anderen Nutzungsbefugten nach lit. b wie auch die Verwertungsgesellschaften und Berufsorganisationen nach Erwgrd. 18 ein unmittelbares Interesse an der Rechtsverteidigung haben, soweit dies nach den Bestimmungen des anwendbaren Rechts zulässig sei (vgl. EuGH v. 7.8.2018 – C-521/17 – SNB-REACT Rz. 39, GRUR 2018, 921). Dies setze keine Befugnis zur tatsächlichen Nutzung der übertragenen Rechte voraus (Rz. 64–69).

Schaden: Neben Rechteinhabern sowie Nutzungsbefugten könnten wegen des intendierten hohen Schutzniveaus auch Personen Ersatz eines Schadens i.S.v. Art. 13 RL 2004/48/EG geltend machen, die Nutzungsrechte von vornherein nicht zu nutzen beabsichtigten und nur die spezialisierte Dienstleistung einer Einziehung von Schadensersatzansprüchen als Zessionar erbrächten (Rz. 72–77; vgl. Forderungseinziehung beim Fluggastschutz nach VO [EG] 261/2004).

Vorgerichtliche Drittauskunft: Nach Art. 8 Abs. 1 RL 2004/48/EG sei ein Auskunftsantrag im Zusammenhang mit einem Verfahren wegen Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums zu stellen. Auch nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss komme ein Drittauskunftsanspruch hinsichtlich Vertriebswegen in Betracht (EuGH v. 18.1.2017 – C-427/15 – NEW WAVE CZ Rz. 28, GRUR 2017, 316). Gleiches gelte für ein vorausgehendes Verfahren vorgerichtlicher gütlicher Einigung etwa auf pauschale Entschädigung, da der Auskunftsanspruch Art. 47 GRC konkretisiere (Rz. 79–84).

Vereinzeltes Vorgehen: Ein Antrag nach Art. 8 Abs. 1 RL 2004/48/EG müsse begründet und verhältnismäßig sein, was im Fall einer Einziehungsermächtigung von Schadenersatzforderungen nicht ausgeschlossen sei. Die Voraussetzung des gewerblichen Ausmaßes von Rechtsverletzungen gelte nur für Maßnahmen nach Artt. 6, 8, 9 RL 2004/48/EG und nicht für Schadensersatzanträge gegen vereinzelte Verletzer nach Art. 13, Erwgrd. 14 RL 2004/48/EG. Für den Auskunftsanspruch genüge es, wenn der vermittelnde Dienstleister in gewerblichem Ausmaß handle (Rz. 85–90).

Rechtsmissbrauch durch Copyright Troll: Rechtsmissbrauch i.S.v. Art. 3 Abs. 2 RL 2004/48/EG komme in Betracht, wenn die Unterbindung von Rechtsverletzungen gar nicht bezweckt sei, sondern die P2P-Netze lediglich als wirtschaftliche Einnahmequelle genutzt würden (Rz. 93–95).

IP-Adress-Speicherung durch Rechteinhaber: Die vorgelagerte Datenverarbeitung bestehe in der systematischen Speicherung von IP-Adressen durch den Auftraggeber im Namen des Rechteinhabers, die zu einem bestimmten Zeitpunkt für das Hochladen geschützter Werke genutzt worden sein sollten. Eine dynamische IP-Adresse sei für den Speichernden ein personenbezogenes Datum i.S.v. Art. 4 Nr. 1 DSGVO, wenn er über rechtliche Mittel zur Identifikation etwa über Art. 8 RL 2004/48/EG verfüge (EuGH v. 19.10.2016 – C-582/14 – Breyer Rz. 49, CR 2016, 791 = ITRB 2016, 267 [Kartheuser]). Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. f DSGVO sei die Verarbeitung zur Wahrung der berechtigten Interessen unter Berücksichtigung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zulässig (vgl. zum inhaltlich übereinstimmenden Art. 7 lit. f RL 95/46/EG EuGH v. 4.5.2017 – C-13/16 – Rīgas satiksme Rz. 28, CR 2017, 504).

Verhältnismäßigkeit: Die rechtliche Verfolgung eines Rechtsverletzers (vgl. zur Ausübung von Rechtsansprüchen Art. 9 Abs. 2 lit. e und f DSGVO) und die ordnungsgemäße Forderungsbeitreibung (vgl. zu RL 2002/58/EG EuGH v. 22.11.2012 – C-119/12 – Probst Rz. 19, CR 2013, 25) seien „berechtigte Interessen“. Die Verarbeitung beschränke sich auf das absolut Notwendige (EuGH v. 4.5.2017 – C-13/16 – Rīgas satiksme Rz. 30, CR 2017, 504 = ITRB 2013, 2 [Rössel]), da eine andere Identifizierungsmöglichkeit ausscheide. Die Grundrechtsabwägung unter Würdigung der konkreten Umstände sei Sache des vorlegenden Gerichts (Rz. 108–111).

Gesetzliche Ermächtigung: Die Überwachung von Nachrichten und Verkehrsdaten erfordere nach Artt. 5 Abs. 1, 15 Abs. 1 RL 2002/58/EG eine gesetzliche Ermächtigung. Zudem seien nach Art. 6 Abs. 1 RL 2002/58/EG Verkehrsdaten vom Netzbetreiber zu löschen oder zu anonymisieren, sobald sie für die Übertragung einer Nachricht nicht mehr benötigt würden. Ausnahmen vom Geheimnisschutz ergäben sich abschließend aus Art. 15 Abs. 1 RL 2002/58/EG i.V.m. Art. 13 Abs. 1 RL 95/46/EG, der im Wesentlichen Art. 23 Abs. 1 DSGVO entspreche. Diese ließen Ausnahmen durch Gesetzgebungsmaßnahmen zu, sofern diese den Wesensgehalt der Grundfreiheiten achteten sowie notwendig und angemessen seien, um etwa die Rechte und Freiheiten anderer Personen sowie die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche (vgl. jetzt ausdrücklich Art. 23 Abs. 1 lit. j DSGVO) sicherzustellen (vgl. EuGH v. 29.1.2008 – C-275/06 – Promusicae Rz. 53, CR 2008, 381). Es sei Sache des vorlegenden Gerichts, die einschlägige nationale Regelung im Licht des Unionsrechts, insb. der Artt. 5, 6, 15 RL 2002/58/EG, zu prüfen (Rz. 115–119).

Übermittlung der Bestandsdaten: Die nachgelagerte Datenverarbeitung bestehe in der Identifizierung der Nutzer anhand der Bestandsdaten durch einen Abgleich mit den zum Zeitpunkt zugewiesenen IP-Adressen. Bestandsdaten enthielten keine Informationen über die konkreten Kommunikationen und somit über das Privatleben, so dass der auf diese Daten abzielende Eingriff grundsätzlich als nicht schwer einzustufen sei (vgl. EuGH v. 2.3.2021 – C-746/18 – Prokuratuur Rz. 34 m.w.N., CR 2021, 243 = ITRB 2021, 129 [Rössel]). Die für den Auskunftsantrag nach Art. 8 Abs. 1 RL 2004/48/EG zum Abgleich erforderlichen Verkehrsdaten stünden unter dem Schutz von Art. 8 GRC und der DSGVO, die durch RL 2002/58/EG präzisiert und ergänzt würden (vgl. EuGH v. 16.7.2015 – C-580/13 – Coty Rz. 30, CR 2016, 251 = ITRB 2015, 275 [Sander/Schöning]). Die Anwendung der in Art. 8 Abs. 1 RL 2004/48/EG und der übrigen Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen könnten die DSGVO und RL 2002/58/EG nicht berühren, da die Vorschriften einem gerechten Grundrechtsausgleich entsprächen (Rz. 120–124).

Datenschutzrechtliche Erlaubnis: Art. 8 Abs. 3 RL 2004/48/EG i.V.m. Art. 15 Abs. 1 RL 2002/58/EG und Art. 7 lit. f RL 95/46/EG (jetzt Artt. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. f, 9 Abs. 2 lit. f DSGVO) hinderten die Mitgliedstaaten nicht daran, eine Verpflichtung zur Weitergabe personenbezogener Daten an Privatpersonen zu schaffen, um die Verfolgung von Urheberrechtsverstößen vor Zivilgerichten zu ermöglichen (vgl. EuGH v. 19.4.2012 – C-461/10 – Bonnier Rz. 55 m.w.N., CR 2012, 385 = ITRB 2012, 148 [Kunczik]). Ein Accessprovider könne nur auf der Grundlage einer Vorschrift nach Art. 15 Abs. 1 RL 2002/58/EG, die die Rechte und Pflichten gem. Artt. 5, 6 RL 2002/58/EG beschränke, hierzu verpflichtet werden (Rz. 125 ff.).

Prüfung der Rechtsgrundlage: Das vorlegende Gericht habe die Rechtsgrundlage sowohl für die Speicherung der IP-Adressen durch den Accessprovider als auch für den Zugriff auf diese durch den Rechteinhaber zu prüfen. Nach Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 RL 2002/58/EG erscheine die Vorratsspeicherung der IP-Adressen über die Dauer ihrer Zuweisung hinaus mangels Notwendigkeit einer Rechnungserstellung als nicht erforderlich, so dass für die Verfolgung von Rechtsverstößen eine Rechtsvorschrift i.S.v. Art. 15 Abs. 1 RL 2002/58/EG notwendig sei (EuGH v. 6.10.2020 – C-511/18 u.a. La Quadrature du Net u.a. Rz. 154, CR 2021, 18 = ITRB 2020, 251 [Rössel]).


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