EuGH, Urt. 1.8.2022 - C-501/20

Gewöhnlicher Aufenthalt der Eheleute/Eltern in einem Drittstaat (Togo)

Autor: RiOLG Jörg Michael Dimmler, Stuttgart
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 11/2022
1. Der in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a VO (EG) Nr. 2201/2003 und Art. 3 Buchst. a und b VO (EG) Nr. 4/2009 enthaltene Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ ist autonom und einheitlich auszulegen. Haben Ehegatten ihren tatsächlichen Lebensmittelpunkt in einem Drittstaat, ist dieser Gesichtspunkt für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts entscheidend. Ihre berufliche Stellung als Vertragsbedienstete der Union ist nicht maßgeblich.2. Für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines minderjährigen Kindes nach Art. 8 Abs. 1 VO (EG) Nr. 2201/2003 ist dessen körperliche Anwesenheit im Mitgliedstaat erforderlich.3. Haben die Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Drittstaat, so kann gegenüber einem Ehegatten, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, ein Scheidungsverfahren im Mitgliedstaat des antragstellenden Ehegatten nicht geführt werden (Sperrklausel des Art. 6 VO (EG) Nr. 2201/2003). Ein Sorgerechtsverfahren kann gleichwohl im Mitgliedstaat des antragstellenden Ehegatten nach Art. 14 VO (EG) Nr. 2201/2003 eingeleitet werden.4. Die sich aus Art. 7 der VO (EG) Nr. 4/2009 ergebende Notzuständigkeit erfordert keinen Nachweis der antragstellenden Person, dass sie die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens erfolglos versucht hat. Die Notzuständigkeit kann insbesondere dann maßgeblich werden, sofern gegen grundlegende Garantien eines fairen Verfahrens verstoßen wird oder diskriminierende Verfahrensbedingen vorliegen sollten.

VO (EG) Nr. 2201/2003 Art. 3 Abs. 1, Art. 6, Art. 7, Art. 8, Art. 14; VO (EG) Nr. 4/2009 Art. 3, Art. 4, Art. 5, Art. 6, Art. 7

Das Problem

Die Antragstellerin (zukünftig: Mutter), spanische Staatsangehörige, und der Antragsgegner (zukünftig: Vater), portugiesischer Staatsangehöriger, haben am 25.8.2010 in der spanischen Botschaft in Guinea-Bissau die Ehe geschlossen. Aus der Ehe sind zwei am 10.10.2007 bzw. am 30.7.2012 in Spanien geborene Kinder hervorgegangen, die sowohl die spanische als auch die portugiesische Staatsangehörigkeit besitzen. Die Eheleute wohnten von August 2010 bis Februar 2015 in Guinea-Bissau und zogen anschließend nach Togo. Ihre faktische Trennung fand im Juli 2018 statt. Die Mutter hält sich nach wie vor in der Ehewohnung in Lomé in Togo auf. Der Vater wohnt in Lomé in einem Hotel. Beide Ehegatten arbeiten für die Europäische Kommission und sind bei der Delegation der Union in Togo beschäftigt. Sie haben die berufliche Stellung von Vertragsbediensteten inne. Am 6.3.2019 stellte die Mutter beim Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 2 de Manresa (Gericht erster Instanz und Ermittlungsgericht Nr. 2 Manresa, Spanien) einen Antrag auf Ehescheidung, verbunden mit einem Sorgerechtsantrag und einem Antrag auf Zahlung von Kindesunterhalt. Der Vater rügte die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts. Das angerufene spanische Gericht stellte seine internationale Unzuständigkeit fest. Hiergegen legte die Mutter beim Audiencia Provincial de Barcelona (Provinzgericht Barcelona) ein Rechtsmittel ein. Sie macht geltend, dass beide Ehegatten als in den Staaten der dienstlichen Verwendung akkreditierte Vertreter der Union Diplomatenstatus besäßen, dass dieser Status vom Aufnahmestaat verliehen werde und dass sich dieser auf die minderjährigen Kinder erstrecke. Sie werde durch die in Art. 31 des Wiener Übereinkommens vorgesehene Immunität geschützt, und ihre Anträge fielen nicht unter die in dieser Bestimmung angeführten Ausnahmen. Nach den Verordnungen Nr. 2201/2003 (= Brüssel IIa-VO) und Nr. 4/2009 (= EuUntVO) richte sich die Zuständigkeit für die Entscheidung über Fragen der Ehescheidung, der elterlichen Verantwortung und des Unterhalts nach dem gewöhnlichen Aufenthalt. Nach Art. 40 des spanischen Zivilgesetzbuchs sei ihr gewöhnlicher Aufenthalt aber nicht der Ort, an dem sie als Vertragsbedienstete der Union tätig sei, sondern ihr Wohnort, bevor sie diesen Status erlangt habe, nämlich Spanien. Die Antragstellerin beruft sich weiterhin auf die in der Verordnung Nr. 4/2009 vorgesehene Notzuständigkeit (forum necessitatis) und führt dazu aus, in welcher Situation sich die Gerichte von Togo befänden. Hierfür legt sie Berichte des Rates für Menschenrechte der Vereinten Nationen vor. In einem dieser Berichte werde festgestellt, dass die Richter nicht angemessen aus- und fortgebildet würden und dass weiterhin in Bezug auf Verletzungen der Menschenrechte ein Klima der Straffreiheit herrsche. In einem weiteren dieser Berichte werde die Besorgnis der Vereinten Nationen hinsichtlich der Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt, des Zugangs zu den Gerichten und der Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen zum Ausdruck gebracht. Der Vater trägt seinerseits vor, dass keiner der Ehegatten eine diplomatische Tätigkeit für sein jeweiliges Land – das Königreich Spanien und die Portugiesische Republik – ausübe, sondern dass sie als Vertragsbedienstete im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses Mitarbeiter der Delegation der Union in Togo seien. Der ihnen zur Verfügung stehende Laissez-passer sei kein diplomatischer Reisepass, sondern ein Passierschein bzw. ein Reisedokument, das nur für das Hoheitsgebiet von Drittstaaten gelte. Außerdem sei nicht das Wiener Übereinkommen anwendbar, sondern das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union. Letzteres sei nach dessen Art. 11 Nr. 7 lit. a jedoch nur auf Handlungen anwendbar, die von Beamten und Bediensteten der Organe der Union in amtlicher Eigenschaft als ebensolche Beamte und Bedienstete vorgenommen würden, so dass es im vorliegenden Fall der Zuständigkeit der togolesischen Gerichte nicht entgegenstehe und die Anwendung der Notzuständigkeit (forum necessitatis) nicht erforderlich mache.

Das Provinzgericht Barcelona hat den EuGH zur Vorabentscheidung zum gewöhnlichen Aufenthalt von Vertragsbediensteten der Union und deren Kindern in einem Drittstaat sowie zur Notzuständigkeit des Art. 7 VO (EG) Nr. 4/2009 im Hinblick auf den geltend gemachten Kindesunterhalt angerufen.

Die Entscheidung des Gerichts

Unter Bezugnahme auf seine bisherige Rechtsprechung (EuGH v. 25.11.2021 – C-289/20, ECLI:EU:C:2021:955, FamRZ 2022, 215 = FamRB 2022, 48 [Dimmler]; EuGH v. 12.5.2022 – C-644/20, ECLI:EU:C:2022:371, FamRB 2022, 252 [Dimmler]) führt der EuGH zunächst aus, dass maßgebend für den autonom und einheitlich auszulegenden Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Rahmen der Verordnungen Nr. 2201/2003 und 4/2009 zum einen der Wille des Betreffenden ist, an einem bestimmten Ort den gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen zu begründen, und zum anderen die Anwesenheit im Hoheitsgebiet des betroffenen Mitgliedstaats, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit aufweist. Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls haben die Eheleute ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Spanien, sondern in Togo. Selbst wenn die Eheleute in Togo den Diplomatenstatus besäßen und daher nach Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens Immunität vor den Zivilgerichten des Empfangsstaats genössen, was gemäß Art. 40 des spanischen Zivilgesetzbuchs zur Anerkennung der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats führen müsse, in dem diese Bediensteten keinen Diplomatenstatus besäßen, ist dies angesichts des nicht existenten gewöhnlichen Aufenthalts in Spanien unerheblich, zumal die Eheleute als Unionsbedienstete auch in den Mitgliedstaaten keine Immunität genießen würden, sofern es um Privatklagen gehe. Spanische Gerichte sind aufgrund der Sperrklausel des Art. 6 lit. b VO (EG) Nr. 2201/2003 (Antragsgegner ist ebenfalls Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats) auch nicht nach Art. 7 VO (EG) Nr. 2201/2003 (Restzuständigkeit) zuständig. Die Antragstellerin kann allerdings ihren Scheidungsantrag vor den portugiesischen Gerichten einreichen.

Auch für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes ist der Anknüpfungspunkt, der sich aus der Staatsangehörigkeit der Mutter sowie aus ihrem Aufenthalt vor der Eheschließung in dem Mitgliedstaat des mit einem Antrag betreffend die elterliche Verantwortung befassten Gerichts ergibt, nicht relevant. Die Geburt der minderjährigen Kinder in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, könne im Einzelfall aber nur dann relevant sein, sofern sich nicht bereits aus der körperlichen Anwesenheit der Kinder ein hinreichend verfestigter gewöhnlicher Aufenthalt der Kinder ergibt. Da sich beide Kinder allerdings gewöhnlich in Togo aufhalten, sind spanische Gericht nach Art. 8 Abs. 1 VO (EG) Nr. 2201/2003 nicht zuständig. Im Gegensatz zur Ehescheidung können spanische Gerichte allerdings aufgrund der Öffnungsklausel des Art. 14 VO (EG) Nr. 2201/2003 zum nationalen Recht zuständig sein, auch wenn der Vater portugiesischer Staatsangehöriger ist. Ein Auseinanderfallen der Zuständigkeit für die Ehescheidung und die elterliche Verantwortung ist der Systematik der Verordnung jedenfalls immanent und auch nicht zwangsläufig mit dem Wohl des Kindes unvereinbar.

Schließlich widmet sich der EuGH sehr ausführlich den vier Voraussetzungen des Art. 7 VO (EG) Nr. 4/2009, unter denen ausnahmsweise ein Unterhaltsverfahren im eigenen Mitgliedstaat geführt werden kann. Erstens muss dieses Gericht feststellen, dass sich überhaupt keine Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats gemäß Art. 3 bis 6 VO (EG) Nr. 4/2009 ergibt. Zweitens muss der bei ihm anhängige Rechtsstreit einen engen Bezug zu einem Drittstaat aufweisen. Dieser ist regelmäßig bei einem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in dessen Hoheitsgebiet gegeben. Drittens muss es nicht zumutbar sein oder sich als unmöglich erweisen, ein Verfahren in diesem Drittstaat einzuleiten oder zu führen. Insoweit hat der Unterhaltsbegehrende keinen Nachweis darüber zu führen, dass er das in Rede stehende Verfahren bei den Gerichten des betreffenden Drittstaats erfolglos eingeleitet oder versucht hat, es dort einzuleiten. Es genügt, dass das angerufene Gericht eines Mitgliedstaats in Anbetracht aller tatsächlichen und rechtlichen Umstände des Einzelfalls in der Lage ist, sich zu vergewissern, dass die Hindernisse in dem betreffenden Drittstaat so beschaffen sind, dass es unzumutbar wäre, von dem Antragsteller zu verlangen, den Unterhaltsanspruch vor den Gerichten dieses Drittstaats geltend zu machen. Dies ist auch der Fall, wenn der Zugang zu den Gerichten in diesem Drittstaat insbesondere durch die Anwendung von Verfahrensbedingungen, die diskriminierend sind oder gegen die grundlegenden Garantien eines fairen Verfahrens verstoßen, beeinträchtigt wird. Viertens muss der Rechtsstreit schließlich einen ausreichenden Bezug zu dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts aufweisen. Dafür genügt u.a. die Staatsangehörigkeit eines der Beteiligten. Das vorlegende Gericht kann sich insoweit für zuständig erklären, um der Gefahr einer Rechtsverweigerung entgegenzuwirken; es darf sich aber nicht nur auf allgemeine Umstände in Bezug auf Schwachstellen des Justizsystems des Drittstaats stützen, ohne zu prüfen, welche Folgen diese Umstände auf den konkreten Fall haben könnten.


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