EuGH, Urt. 26.4.2022 - C-401/19

Vereinbarkeit der Uploadfilter mit Meinungs- und Informationsfreiheit

Autor: RA Markus Rössel, LL.M. (Informationsrecht), Köln
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 06/2022
Die beiden Filterpflichten der Hoster zur Verhinderung des Teilens urheberrechtswidriger Dateien durch ihre Nutzer nach Art. 17 Abs. 4 lit. b und lit. c Halbs. 2 RL (EU) 2019/790 sind mit Artt. 11, 52 Abs. 1 GRC vereinbar.

GRC Artt. 11, 17 Abs. 2, 52 Abs. 1; RL (EU) 2019/790 Art. 17 Abs. 4 lit. b, lit. c

Das Problem

Wird eine Erlaubnis des Rechteinhabers nicht erteilt, obliegt es gem. Art. 17 Abs. 4 lit. b, lit. c Halbs. 2 RL (EU) 2019/790 (DSM-RL) dem Diensteanbieter zur Vermeidung seiner Verantwortlichkeit für das urheberrechtswidrige Teilen von Online-Inhalten durch seine Nutzer, vorbeugend Uploadfilter auf Grundlagevon Rechteinhabern zur Identifizierung der Schutzgegenstände zur Verfügung gestellten Informationen einzusetzen.

Die Entscheidung des Gerichts

Die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV der Republik Polen wegen o.a. Bestimmung gestützt auf die Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit gem. Art. 11 GRC wird abgewiesen.

Hergebrachte Rechtslage: Der Betreiber einer Videosharing- oder Sharehosting-Plattform habe eine öffentliche Wiedergabe i.S.v. Art. 3 Abs. 1 RL 2001/29/EG urheberrechtswidriger Nutzerinhalte nur dann vorgenommen, wenn er von den Rechtsverletzungen konkret Kenntnis habe und den Inhalt nicht unverzüglich blockiere (entferne/sperre). Desgleichen, wenn er, obwohl er zumindest wissen müsste, dass im Allgemeinen Rechtsverletzungen bei ihm begangen würden, nicht die geeigneten technischen Abwehrmaßnahmen ergreife oder auch, wenn er an der Auswahl rechtswidrig zugänglich gemachter Inhalte beteiligt sei, auf seiner Plattform Hilfsmittel speziell zum unerlaubten Teilen anbiete oder dies wissentlich etwa durch ein zur Rechtsverletzung verleitendes Geschäftsmodell fördere (Rz. 27).

Haftungsprivilegierung: Ein Betreiber sei dann gem. Art. 14 Abs. 1 lit. a ECRL von der dort vorgesehenen Haftungsbefreiung ausgeschlossen, wenn er eine bzgl. der Nutzerinhalte Kenntnis oder Kontrolle verschaffende aktive Rolle spiele oder Kenntnis von den konkreten Rechtsverletzungen habe (Rz. 28; vgl. EuGH v. 22.6.2021 – C-682/18 und C-683/18 – YouTube und Cyando Rz. 102, 117 f., CR 2021, 540 = ITRB 2021, 175 [Rössel]).

Modifizierte Rechtslage: Wegen zunehmenden Verletzungsrisikos sei das streitgegenständliche Haftungsverfahren für bestimmte große Hoster i.S.v. Artt. 2 Nr. 6 Abs. 1, Abs. 2, 17 Abs. 6 DSM-RL vorgesehen worden, um faire Lizenzen zu fördern (vgl. Erwgrd. 61, 66 DSM-RL). Nach Art. 17 Abs. 1 DSM-RL nehme ein Diensteanbieter für das Inhalteteilen seiner Nutzer eine öffentliche Wiedergabe oder Zugänglichmachung vor, wenn er der Öffentlichkeit Zugang verschaffe und deshalb dafür eine Lizenzvereinbarung schließen müsse. Die Haftungsprivilegierung nach Art. 14 Abs. 1 ECRL entfalle nach Art. 17 Abs. 3 DSM-RL (Rz. 29–33).

Haftung bei fehlender Erlaubnis: Diensteanbieter könnten sich von der Haftung nur unter den kumulativen Voraussetzungen ausreichender Anstrengung um Lizenzierung und vorheriger Filterung sowie Blockierung und Filterung nach Verletzungshinweis gem. Art. 17 Abs. 4 lit. a-c DSM-RL befreien. Zudem sei Art. 17 Abs. 5-10 DSM-RL zu beachten (Rz. 34–38).

Filterpflichten: Art. 17 Abs. 4 DSM-RL beruhe auf der Prämisse, dass die Anbieter nicht unbedingt für alle geschützten Inhalte eine Lizenz erlangen könnten, zumal die Rechteinhaber diesbezüglich frei seien (Erwgrd. 61 DSM-RL). In diesem Fall müssten die Anbieter zur Haftungsvermeidung den Nachweis der o.a. Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 4 lit. a-c DSM-RL erbringen. Die vorherige Filterpflicht bestehe unabhängig neben der Filterpflicht nach Verletzungshinweis. Für die Filterung seien in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit gem. Art. 17 Abs. 5 DSM-RL automatisierte Verfahren einzusetzen (Rz. 48–54).

Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit: Eine zur Einschränkung der Inhalteverbreitung geeignete Filterung könne einen Eingriff in Art. 11 GRC und Art. 10 EMRK i.V.m. Art. 52 Abs. 3 GRC darstellen. Diese Einschränkung sei dem Unionsgesetzgeber zuzurechnen, da sie unmittelbar aus Art. 17 Abs. 4 DSM-RL folge (Rz. 44–47, 55 f.).

Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs: Nach Art. 52 Abs. 1 GRC seien bei Grundrechtseinschränkungen Gesetzesvorbehalt, Grundrechtswesensgehalt, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und praktische Konkordanz der Grundrechte zu beachten. Die davon umfassten Mindesterfordernisse zum wirksamen Missbrauchsschutz seien bei automatisierten (Filter-)Verfahren umso bedeutsamer (Rz. 63–67; vgl. EuGH v. 16.7.2020 – C-311/18 – Facebook Ireland und Schrems Rz. 176 m.w.N., CR 2020, 529 = ITRB 2020, 180 [Rössel]). Die vorherige Einschränkung eines Verbreitungsmittels stelle so große Gefahren für die Meinungsäußerungsfreiheit dar, dass sie in einem besonders strikten rechtlichen Rahmen erfolgen müsse (Rz. 68; vgl. EGMR v. 18.12.2012 – 3111/10 – Ahmet Yildirim/Türkei Rz. 47, 64).

Keine technische Konkretisierung: Dass Art. 17 Abs. 4 lit. b, lit. c Halbs. 2 DSM-RL die technische Seite der Filterung nicht näher konkretisiere, sei unschädlich. Der Gesetzesvorbehalt schließe hinreichend offene Formulierungen nicht aus, um Anpassungen an Änderungen der Lage zu erlauben (vgl. EGMR v. 16.6.2015 – 64569/09 – Delfi AS/Estland Rz. 121 m.w.N., NJW 2015, 2863). Die praktische Konkordanz zwischen Artt. 11, 16 GRC und andererseits den Rechten des geistigen Eigentums nach Art. 17 Abs. 2 GRC könne diese Flexibilität des Diensteanbieters sogar erforderlich machen (Rz. 73 ff.; vgl. EuGH v. 27.3.2014 – C-314/12 – UPC Telekabel Wien Rz. 52, CR 2014, 469).

Wesensgehalt: Art. 17 Abs. 7 Unterabs. 1, Abs. 9 Unterabs. 3, Erwgrd. 66, 70 DSM-RL verbiete Overblocking und lasse diesbezüglich nicht bloße Anstrengungen wie bei der gerechtfertigten Filterung ausreichen. Somit sei ein angemessenes Gleichgewicht mit Art. 11 GRC gewährleistet (Rz. 76–81).

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Die vorliegende Grundrechtseinschränkung entspreche i.S.v. Art. 52 Abs. 1 GRC den Erfordernissen des Schutzes geistigen Eigentums nach Art. 17 Abs. 2 GRC, um zur Schaffung eines gut funktionierenden und fairen Urheberrechtsmarkts beizutragen (vgl. Erwgrd. 2, 3, 61 DSM-RL). Das streitgegenständliche Haftungsverfahren sei dafür nicht nur geeignet, sondern auch erforderlich. Die übrigen Verpflichtungen in Art. 17 Abs. 4 lit. a, lit. c DSM-RL allein seien nicht ebenso wirksam (Rz. 82 f.).

Angemessenheit: Ein Filtersystem, das zur Sperrung von zulässigem Inhalt führen könnte, würde das angemessene Gleichgewicht mit Art. 11 GRC nicht wahren, so dass solche Systeme ausgeschlossen seien (vgl. Art. 17 Abs. 7, Abs. 9, Erwgrd. 66, 70 DSM-RL). Für die Inhaltezulässigkeit seien in den Mitgliedsstaaten unterschiedliche urheberrechtlichen Schranken, Gemeinfreiheit und kostenlose Lizenzen zu beachten (vgl. EuGH v. 16.2.2012 – C-360/10 – SABAM Rz. 50, 51, CR 2012, 265 = ITRB 2012, 75 [Rössel]). Zudem dürften nach Art. 17 Abs. 7 Unterabs. 2 DSM-RL – anders als nach Art. 5 RL 2001/29/EG nicht nur fakultativ – nutzergenerierte Inhalte u.a. für Rezensionen und Karikaturen zugänglich gemacht werden. Hierüber sei nach Art. 17 Abs. 9 Unterabs. 4 DSM-RL in den Nutzungsbedingungen zu informieren (Rz. 84–89).

Mitwirkung und Überwachungsverbot: Die Filterpflichten setzten die Übermittlung der für die Filterung erforderlichen Informationen durch die Rechteinhaber voraus. Nach dem Verbot allgemeiner Überwachungspflichten nach Art. 17 Abs. 8 DSM-RL bestünden – wie nach Art. 15 Abs. 1 ECRL – keine Filterpflichten bzgl. Inhalten, die die Dienstanbieter hinsichtlich der von den Rechteinhabern bereitgestellten Informationen sowie etwaiger urheberrechtliche Schranken eigenständig inhaltlich beurteilen müssten (Rz. 90; vgl. EuGH v. 3.10.2019 – C-18/18 – Glawischnig-Piesczek Rz. 41–46, CR 2019, 731 = ITRB 2019, 248 [Rössel]).

Verletzungshinweis: Teilweise werde die Verhinderung der Rechtsverletzungen nicht durch eine vorherige, sondern nur durch eine Filterung nach Verletzungshinweis möglich sein (vgl. Erwgrd. 66 DSM-RL). Dieser Hinweis dürfe keine eingehende rechtliche Prüfung erforderlich machen (vgl. EuGH v. 22.6.2021 – C-682/18 und C-683/18 – YouTube und Cyando Rz. 116, CR 2021, 540 = ITRB 2021, 175 [Rössel]).

Verfahrensrechtliche Garantien: Es seien nach Art. 17 Abs. 9 Unterabs. 1, Unterabs. 2, Erwgrd. 70 DSM-RL wirksame und zügige Beschwerde- und Rechtsbehelfsverfahren gegen Overblocking zur Verfügung zu stellen. Beschwerden seien unverzüglich manuell zu prüfen. Außerdem müssten Rechteinhaber ihre Blockierungsersuchen angemessen begründen. Ferner sei Nutzern neben gerichtlichen auch Zugang zu außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren zu verschaffen (Rz. 93 ff.).

Anwendungsleitlinien: Nach Art. 17 Abs. 10 DSM-RL müssten Kommission, Mitgliedstaaten und Interessenträger Leitlinien zur Anwendung von insb. Art. 17 Abs. 4 DSM-RL entwickeln, die namentlich Art. 11 GRC zu berücksichtigen hätten. Dafür hätten Nutzerorganisationen Zugang zu angemessenen, von den Diensteanbietern bereitgestellten Informationen über ihre (Filter-)Verfahren (Rz. 96 f.).


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