EuGH, Urt. 30.4.2024 - C-670/22

EncroChat-Beweisverwertung

Autor: RA Markus Rössel, LL.M (Informationsrecht), Köln
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 07/2024
Nach Art. 14 Abs. 7 RL 2014/41/EU sind im Strafverfahren Informationen und Beweise nicht zu berücksichtigen, wenn der Verdächtige nicht sachgerecht zu ihnen Stellung nehmen kann und sie die Tatsachenwürdigung maßgeblich beeinflussen könnten.

RL 2014/41/EU Art. 1 Abs. 1, Art. 2 lit. c, Art. 6 Abs. 1, Art. 14 Abs. 7, Art. 31

Das Problem

Französische Behörden spielten mit richterlicher Genehmigung Trojaner über einen EncroChat-Server auf kostspielige Kryptohandys von 32.477 Nutzern in 122 Ländern, um wegen Verdachts insb. von Drogenhandel die E2E-Verschlüsselung zu umgehen und so Kommunikations-, Verkehrs- und Standortdaten abzufangen. Nach vorherigem Datenabruf zu Auswertungszwecken ersuchte die GenStA Frankfurt am 2.6.2020 mit einer ersten Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) erfolgreich die französischen Behörden um Übermittlung der Daten der rd. 4.600 deutschen Nutzer zur uneingeschränkten Nutzung in Strafverfahren.

Die Entscheidung des Gerichts

Kein zwingender Richtervorbehalt: Nach Art. 1 Abs. 1 RL 2014/41/EU (RL EEA) könne die EEA auf Beweiserhebung im Vollstreckungsstaat gerichtet sein oder auf Übermittlung von bereits im Besitz von dessen Behörden befindlichen Beweismitteln (Beweisübermittlung). Soweit nach dem Recht des Anordnungsstaats, wie ggf. § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO, bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt i.S.v. Art. 6 Abs. 1 lit. b RL EEA die StA für die Anordnung der Beweisübermittlung zuständig sei, könne sie i.S.v. Art. 2 lit. c Ziff. i RL EEA die EEA anordnen (Rz. 70–77 m.w.N.; Ls. 1).

Kein zwingendes Tatverdachtserfordernis: Art. 6 Abs. 1 lit. a RL EEA verlange, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit für Verfahren i.S.v. Art. 4 lit. a RL EEA allein anhand des Rechts des Anordnungsstaats zu prüfen, so dass sich die Erforderlichkeit eines konkreten Verdachts einer schweren Straftat gegen jeden Betroffenen bei EEA-Erlass nur nach ihm richte (Rz. 86–89 m.w.N.).

Mögliche Rechtsumgehung: Nach Art. 6 Abs. 1 lit. b RL EEA hänge die Beweisübermittlung vom Recht des Anordnungsstaats für einen vergleichbaren innerstaatlichen Fall ab, etwa bzgl. qualifizierten Verdachts oder Beweisverwertbarkeit. Die Vorschrift verlange aber nicht, dass die Übermittlungsanordnung – anders als die Erhebungsanordnung i.S.v. Art. 30 Abs. 1 RL EEA – denselben materiell-rechtlichen Erhebungsvoraussetzungen des Anordnungsstaats unterliege. Eine ggf. unzulässige Umgehung des Rechts des Anordnungsstaats sei aber nicht ausgeschlossen (Rz. 91–98).

Keine Prüfung der Erhebungsvoraussetzungen: Nach Erwgrd. 2, 6, 19 der RL EEA beruhe die EEA als Instrument justizieller Zusammenarbeit in Strafsachen auf gegenseitiger Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen sowie widerlegbarer Vermutung der Einhaltung von Unionsrecht. Eine Prüfung der Erhebungsvoraussetzungen bei Übermittlung liefe der Effizienzsteigerung i.S.v. Erwgrd. 5 bis 8 der RL EEA zuwider (Rz. 86, 99 ff. m.w.N.).

Mögliche Übermittlung bei Endgeräteinfiltration: Art. 6 Abs. 1 RL EEA verbiete keine Übermittlung von Beweismitteln, die vom Vollstreckungsstaat durch Staatstrojaner auf Mobiltelefonen im Anordnungsstaat erlangt würden, sofern die EEA das Recht des Anordnungsstaats für die Beweisübermittlung bei rein innerstaatlichen Sachverhalten erfülle (Rz. 106; Ls. 2).

TKÜ-Unterrichtung: Der unionsautonome weite Begriff des Telekommunikationsverkehrs umfasse jegliche Fernübermittlung (vgl. zu Telefonnummer, IP- und E-Mail-Adresse Art. 31 Abs. 2, Anh. C Punkt B-III RL EEA). Kommunikations-, Verkehrs- und Standortdaten seien umfasst (Erwgrd. 30 der RL EEA). Deren Abschöpfung aus Kommunikationsdiensten durch Endgeräteinfiltration sei unterrichtungspflichtige TKÜ i.S.d. Art. 31 Abs. 1 RL EEA. Könne der überwachende Mitgliedstaat die zu unterrichtende Behörde nicht ermitteln, könne die Unterrichtung an jede geeignet erscheinende Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats erfolgen. Eine unzuständige Behörde müsse die Unterrichtung weiterleiten (Rz. 108–119 m.w.N.; Ls. 3).

Individualschützende Unterrichtungspflicht: Im Gegensatz zur unterstützten TKÜ (Art. 30 RL EEA) sei die autarke TKÜ (Art. 31 RL EEA) nicht Gegenstand einer EEA, so dass deren Voraussetzungen nicht anwendbar seien. Nach Art. 31 Abs. 3 RL EEA könne aber die unterrichtete Behörde bei mangelnder Genehmigungsfähigkeit im vergleichbaren innerstaatlichen Fall nach pflichtgemäßem Ermessen TKÜ und Nutzung gesammelten Materials untersagen oder an Bedingungen knüpfen. Art. 31 RL EEA solle nicht nur die Achtung der Souveränität des unterrichteten Mitgliedstaats, sondern wegen Eingriffs in Art. 7 GRC auch Individualschutz gewährleisten (Rz. 121–125 m.w.N.; Ls. 4).

Nationales Verwertungsverbot: Zulässigkeit und Würdigung unionsrechtswidrig erlangter Informationen im Strafverfahren richteten sich mangels Unionsrechts wegen der Verfahrensautonomie nach nationalem Recht, vorbehaltlich von Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz (Rz. 128 f.).

Verfahrensfairness: Art. 14 Abs. 1 RL EEA sehe innerstaatlich vergleichbare Rechtsbehelfe z.B. bzgl. unverhältnismäßiger Eingriffe oder innerstaatlicher Vergleichbarkeit vor. Art. 14 Abs. 7 Satz 2 RL EEA verpflichte im Strafverfahren bei Bewertung der Beweise aus der EEA zur Wahrung von Verteidigungsrechten und Verfahrensfairness, so dass die Möglichkeit zur sachgerechten Stellungnahme zum Beweismittel entscheidend sei. Die – hier wegen französischen Militärgeheimnisses erschwerte – technische Überprüfung der Integrität erlangter Daten müsse erst im Strafverfahren gewährleistet sein (Rz. 90, 101-105 m.w.N., 130 f.; Ls. 5).


Wussten Sie schon?

Werden Sie jetzt Teilnehmer beim Anwalt-Suchservice und Sie greifen jederzeit online auf die Zeitschrift „IT-Rechtsberater“ des renommierten juristischen Fachverlags Dr. Otto Schmidt, Köln, zu.

Die Zeitschrift ist speziell auf Praktiker zugeschnitten. Sie lesen aktuelle Urteilsbesprechungen inklusive speziellem Beraterhinweis sowie Fachaufsätze und Kurzbeiträge zum Thema IT-Recht und zwar 24/7, also wo und wann immer Sie wollen.

Infos zur Teilnahme