EuGH, Urt. 30.5.2024 - C-662/22, C-667/22
Herkunftslandprinzip bei Durchsetzung der P2B-VO
Autor: RA Markus Rössel, LL.M. (Informationsrecht), Köln
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 08/2024
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 08/2024
Art. 3 ECRL steht sanktionierten gesetzlichen Verpflichtungen i.R.d. Durchsetzung der VO (EU) 2019/1150 gegenüber Vermittlungsdiensten aus anderen Mitgliedstaaten entgegen, sich in ein Register einzutragen, einen finanziellen Beitrag zu entrichten oder detaillierte Informationen über die Organisation mitzuteilen.
AEUV Art. 56; RL 2006/123/EG; ECRL Art. 3; VO (EU) 2019/1150
Aufsicht und deren Anerkennung: Nach Art. 3 Abs. 1 ECRL müssten Dienste den nationalen Vorschriften am Niederlassungsort entsprechen. Art. 3 Abs. 2 ECRL verbiete, den Dienstleistungsverkehr aus anderen Mitgliedstaaten einzuschränken. Ausnahmen für Maßnahmen ergäben sich aus Art. 3 Abs. 4 ECRL (EuGH v. 19.12.2019 – C-390/18 Rz. 83, ECLI:EU:C:2019:1112 – Airbnb Ireland, CR 2020, 194 = ITRB 2020, 53 [Rössel]). Die ECRL basiere auf der Aufsicht im Herkunftsmitgliedstaat und der gegenseitigen Anerkennung ihrer Regelung für Ziele des Allgemeininteresses i.S.v. Art. 3 Abs. 4 lit. a Ziff. i ECRL. Der Bestimmungsmitgliedstaat dürfe den Diensteverkehr – vorbehaltlich Abs. 4 – nicht durch zusätzliche Verpflichtungen im koordinierten Bereich einschränken (Rz. 51–53, 55-58; vgl. EuGH v. 9.11.2023 – C-376/22, ECLI:EU:C:2023:835 Rz. 42 ff. – Google Ireland u.a., CR 2023, 800 = ITRB 2024, 4 [Rössel]).
Dienstezulassung oder -ausübung: Der koordinierte Bereich i.S.v. Art. 2 lit. h, Art. 3 ECRL umfasse Anforderungen an Tätigkeitsaufnahme und -ausübung inkl. Qualifikation, Genehmigung und Anmeldung sowie Anforderungen an Verhalten, Qualität oder Inhalt des Diensts. Die sanktionsbewehrte Registrierungspflicht bleibe relevant, auch wenn ein Diensteanbieter de facto ohne diese Verpflichtung tätig sein könne. Dass die sanktionsbewehrten Informations- und Gebührenverpflichtungen zur Aufsicht auferlegt würden, ändere nichts an der Wirkung auch gegenüber Diensten aus anderen Mitgliedstaaten (Rz. 54, 62 ff.).
Konkretisierung der Dienstleistungsfreiheit: Zwar verstoße nationales Recht nicht gegen Art. 56 AEUV, das für alle im Inland tätigen Wirtschaftsteilnehmer gelte, nicht die Regelung der Erbringung der Dienstleistungen bezwecke und dessen beschränkende Wirkung zu ungewiss und zu mittelbar für die Freiheitsbeeinträchtigung sei. Jedoch könnten diese Bedingungen Anforderungen im koordinierten Bereich schon deshalb nicht erfüllen, weil sie per definitionem Tätigkeitszulassung und -ausübung regelten. Zum anderen könne eine Grundfreiheit des AEUV durch abgeleitetes Unionsrecht konkretisiert werden, indem es für ein ordnungsgemäßes Funktionieren des Binnenmarkts noch günstigere Voraussetzungen als diejenigen des Primärrechts schaffe (Rz. 66 m.w.N.).
Ausnahmevoraussetzungen: Generell-abstrakte Maßnahmen, die für eine allgemeine Kategorie von Diensten der Informationsgesellschaft gelten würden, könnten nicht als Maßnahmen i.S.v. Art. 3 Abs. 4 ECRL betrachtet werden, so wie das wohl vorliegend der Fall sei. Diese müssten zudem gem. Art. 3 Abs. 4 ECRL erforderlich sein, um den Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit, Sicherheit oder Verbraucher zu gewährleisten (Rz. 68–72).
Geltungsbereich der P2B-VO: Nach Art. 1 Abs. 5 P2B-VO gelte sie unbeschadet der Rechtsvorschriften der Union insb. zum elektronischen Geschäftsverkehr. Daher seien Maßnahmen zur Durchsetzung der P2B-VO nur dann mit Art. 3 Abs. 4 lit. a ECRL vereinbar, wenn ihre Ziele der Bestimmung entsprächen. Nach Art. 1 Abs. 1 P2B-VO i.V.m. Erwgrd. 7, 51 solle ein faires, vorhersehbares und vertrauenswürdiges Online-Umfeld im Binnenmarkt geschaffen und gewerblichen Nutzern i.S.v. Art. 2 Nr. 1 P2B-VO angemessene Transparenz und Abhilfemöglichkeiten für grenzüberschreitende Geschäfte geboten werden (Rz. 74–77).
Unmittelbare Ziele der P2B-VO: Selbst wenn nationale Maßnahmen dem Ziel der P2B-VO dienten, bestehe kein direkter Zusammenhang mit den Zielen i.S.v. Art. 3 Abs. 4 lit. a Ziff. i ECRL. Denn die P2B-VO intendiere nicht den Schutz der öffentlichen Ordnung oder den der öffentlichen Gesundheit oder Sicherheit. Der Verbraucherschutz sei wegen des gewährleisteten Schutzes von Unternehmen nicht unmittelbar betroffen (vgl. zur bloß mittelbaren Wirkung Erwgrd. 3 P2B-VO). Wegen der gebotenen engen Auslegung der Ausnahmevorschrift könne Art. 3 Abs. 4 ECRL nicht für Maßnahmen mit nur indirektem Zielzusammenhang gelten. Die Registrierungs-, Informations- und Gebührenpflichten erfüllten hier nicht Art. 3 Abs. 4 lit. a ECRL (Rz. 78–85, 87; Ls.).
AEUV Art. 56; RL 2006/123/EG; ECRL Art. 3; VO (EU) 2019/1150
Das Problem
Außer den vorliegenden Verfahrensbeteiligten wenden sich auch weitere Online-Vermittlungsdienste und eine Online-Suchmaschine aus Irland und den USA klageweise gegen Beschlüsse der italienischen Regulierungsbehörde AGCOM aufgrund eines Gesetzes v. 30.12.2020 zur Durchführung der P2B-VO. Danach sind „auch nicht niedergelassene Anbieter“ sanktionsbewehrt verpflichtet, sich in ein Register der AGCOM einzutragen, Gebühren zu entrichten und jährlich Informationen etwa zu Gesellschaftskapital, Gesellschaftern, Beteiligungsverhältnissen, Zusammensetzung und der Dauer der Amtszeit des Verwaltungsorgans sowie gesetzlichem Vertreter zu erteilen.Die Entscheidung des Gerichts
Spezialität der ECRL: Die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 56 AEUV werde durch die dem freien Dienstleistungsverkehr dienende DLRL 2006/123/EG und die den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft gewährleistende ECRL konkretisiert. Der von Art. 1 Abs. 5 lit. a ECRL ausgenommene, aber von Art. 56 AEUV umfasste Bereich der Besteuerung sei nicht geltend gemacht worden. Nach Art. 3 Abs. 1 DLRL gebühre Art. 3 ECRL wegen spezifischer Regelung von Aufnahme und Ausübung eines digitalen Diensts der Vorrang (Rz. 46–50, 86 m.w.N.).Aufsicht und deren Anerkennung: Nach Art. 3 Abs. 1 ECRL müssten Dienste den nationalen Vorschriften am Niederlassungsort entsprechen. Art. 3 Abs. 2 ECRL verbiete, den Dienstleistungsverkehr aus anderen Mitgliedstaaten einzuschränken. Ausnahmen für Maßnahmen ergäben sich aus Art. 3 Abs. 4 ECRL (EuGH v. 19.12.2019 – C-390/18 Rz. 83, ECLI:EU:C:2019:1112 – Airbnb Ireland, CR 2020, 194 = ITRB 2020, 53 [Rössel]). Die ECRL basiere auf der Aufsicht im Herkunftsmitgliedstaat und der gegenseitigen Anerkennung ihrer Regelung für Ziele des Allgemeininteresses i.S.v. Art. 3 Abs. 4 lit. a Ziff. i ECRL. Der Bestimmungsmitgliedstaat dürfe den Diensteverkehr – vorbehaltlich Abs. 4 – nicht durch zusätzliche Verpflichtungen im koordinierten Bereich einschränken (Rz. 51–53, 55-58; vgl. EuGH v. 9.11.2023 – C-376/22, ECLI:EU:C:2023:835 Rz. 42 ff. – Google Ireland u.a., CR 2023, 800 = ITRB 2024, 4 [Rössel]).
Dienstezulassung oder -ausübung: Der koordinierte Bereich i.S.v. Art. 2 lit. h, Art. 3 ECRL umfasse Anforderungen an Tätigkeitsaufnahme und -ausübung inkl. Qualifikation, Genehmigung und Anmeldung sowie Anforderungen an Verhalten, Qualität oder Inhalt des Diensts. Die sanktionsbewehrte Registrierungspflicht bleibe relevant, auch wenn ein Diensteanbieter de facto ohne diese Verpflichtung tätig sein könne. Dass die sanktionsbewehrten Informations- und Gebührenverpflichtungen zur Aufsicht auferlegt würden, ändere nichts an der Wirkung auch gegenüber Diensten aus anderen Mitgliedstaaten (Rz. 54, 62 ff.).
Konkretisierung der Dienstleistungsfreiheit: Zwar verstoße nationales Recht nicht gegen Art. 56 AEUV, das für alle im Inland tätigen Wirtschaftsteilnehmer gelte, nicht die Regelung der Erbringung der Dienstleistungen bezwecke und dessen beschränkende Wirkung zu ungewiss und zu mittelbar für die Freiheitsbeeinträchtigung sei. Jedoch könnten diese Bedingungen Anforderungen im koordinierten Bereich schon deshalb nicht erfüllen, weil sie per definitionem Tätigkeitszulassung und -ausübung regelten. Zum anderen könne eine Grundfreiheit des AEUV durch abgeleitetes Unionsrecht konkretisiert werden, indem es für ein ordnungsgemäßes Funktionieren des Binnenmarkts noch günstigere Voraussetzungen als diejenigen des Primärrechts schaffe (Rz. 66 m.w.N.).
Ausnahmevoraussetzungen: Generell-abstrakte Maßnahmen, die für eine allgemeine Kategorie von Diensten der Informationsgesellschaft gelten würden, könnten nicht als Maßnahmen i.S.v. Art. 3 Abs. 4 ECRL betrachtet werden, so wie das wohl vorliegend der Fall sei. Diese müssten zudem gem. Art. 3 Abs. 4 ECRL erforderlich sein, um den Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit, Sicherheit oder Verbraucher zu gewährleisten (Rz. 68–72).
Geltungsbereich der P2B-VO: Nach Art. 1 Abs. 5 P2B-VO gelte sie unbeschadet der Rechtsvorschriften der Union insb. zum elektronischen Geschäftsverkehr. Daher seien Maßnahmen zur Durchsetzung der P2B-VO nur dann mit Art. 3 Abs. 4 lit. a ECRL vereinbar, wenn ihre Ziele der Bestimmung entsprächen. Nach Art. 1 Abs. 1 P2B-VO i.V.m. Erwgrd. 7, 51 solle ein faires, vorhersehbares und vertrauenswürdiges Online-Umfeld im Binnenmarkt geschaffen und gewerblichen Nutzern i.S.v. Art. 2 Nr. 1 P2B-VO angemessene Transparenz und Abhilfemöglichkeiten für grenzüberschreitende Geschäfte geboten werden (Rz. 74–77).
Unmittelbare Ziele der P2B-VO: Selbst wenn nationale Maßnahmen dem Ziel der P2B-VO dienten, bestehe kein direkter Zusammenhang mit den Zielen i.S.v. Art. 3 Abs. 4 lit. a Ziff. i ECRL. Denn die P2B-VO intendiere nicht den Schutz der öffentlichen Ordnung oder den der öffentlichen Gesundheit oder Sicherheit. Der Verbraucherschutz sei wegen des gewährleisteten Schutzes von Unternehmen nicht unmittelbar betroffen (vgl. zur bloß mittelbaren Wirkung Erwgrd. 3 P2B-VO). Wegen der gebotenen engen Auslegung der Ausnahmevorschrift könne Art. 3 Abs. 4 ECRL nicht für Maßnahmen mit nur indirektem Zielzusammenhang gelten. Die Registrierungs-, Informations- und Gebührenpflichten erfüllten hier nicht Art. 3 Abs. 4 lit. a ECRL (Rz. 78–85, 87; Ls.).