EuGH, Urt. 6.6.2024 - C-381/23

Verfahrensaussetzung bei Anhängigkeit eines Unterhaltsverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat

Autor: RiOLG Jörg Michael Dimmler, Stuttgart
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 09/2024
Verfahrensidentität nach Art. 12 Abs. 1 EuUntVO liegt nicht vor, wenn das zwischenzeitlich volljährige Kind in Deutschland gegenüber seiner in Belgien lebenden Mutter Kindesunterhalt einfordert und die Mutter demgegenüber bereits zuvor in Belgien ein Verfahren gegen den Vater des Kindes wegen eines Ausgleichsanspruchs für die Kosten der Unterbringung und den Unterhalt des Kindes eingeleitet hat. Die jeweiligen Ansprüche verfolgen nicht das gleiche Ziel und decken sich auch nicht in zeitlicher Hinsicht. In Betracht gezogen werden kann allerdings eine Aussetzung nach Art. 13 Abs. 1 EuUntVO.

EuUntVO Art. 12, 13

Das Problem

Das AG Mönchengladbach-Rheydt hat den EuGH zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV angerufen.

Die Antragstellerin, die am 29.11.2001 geboren wurde und im Verlauf des anhängigen Verfahrens volljährig geworden ist, macht aufgrund eines im Jahr 2018 eingeleiteten Verfahrens Unterhaltsansprüche ab November 2017 gegenüber ihrer in Belgien lebenden Mutter im Wege des Stufenantrags geltend. Die Antragstellerin ist bis zum Eintritt ihrer Volljährigkeit von ihrem in Deutschland lebenden Vater vertreten worden. Die Ehe der Eltern, aus der noch ein weiteres, am 5.5.2000 geborenes Kind hervorgegangen ist, ist am 29.11.2010 geschieden worden. Zunächst lebte die Antragstellerin bei ihrer Mutter in Belgien. Aufgrund eines Urteils des Gerichts Erster Instanz in Eupen vom 17.12.2014 war der Kindesvater zur Zahlung monatlichen Unterhalts an die Antragstellerin und deren Bruder verpflichtet worden. Mit Urteil vom 31.8.2017 übertrug das Gericht Erster Instanz in Eupen dem Vater das „Hauptbeherbergungsrecht“. Die Antragstellerin hält sich während der Woche im Internat in Deutschland und nach ihrem Vortrag während der Schulferien sowie der schulfreien Tage bei ihrem Vater auf. Die Antragstellerin ist sowohl bei ihrem Vater als auch bei ihrer Mutter gemeldet. Vor dem Gericht Erster Instanz Eupen ist ein im Jahr 2014 eingeleitetes Verfahren der Kindesmutter gegenüber dem Kindesvater anhängig, welches seit Sommer 2018 ruhte und mit Schreiben vom 17.8.2021 durch die Mutter wiederaufgenommen worden ist. Im Rahmen dieses Verfahrens macht die Mutter gegenüber dem Vater einen Ausgleichsanspruch wegen der Unterbringung und des Unterhalts geltend, den die Mutter für die Antragstellerin vom 1.8.2017 bis zum 31.12.2018 geleistet habe. Die Kindesmutter hat daher die Einrede der anderweitigen Anhängigkeit in Belgien erhoben.

Das vorlegende Gericht möchte nun geklärt wissen, ob es sein Verfahren aufgrund der anderweitigen Anhängigkeit wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien nach Art. 12 Abs. 1 EuUntVO auszusetzen habe.

Die Entscheidung des Gerichts

Der EuGH entscheidet, dass eine Aussetzung nach Art. 12 Abs. 1 EuUntVO nicht in Betracht kommt, das vorlegende Gericht sein Verfahren allerdings nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung aussetzen könnte. Der EuGH geht zunächst auf die erforderliche Parteiidentität (die Verordnung geht von Parteien und nicht von Beteiligten aus!) ein. In bestimmten Situationen können Parteien, die in formaler Hinsicht voneinander verschieden sind, hinsichtlich des Gegenstands der betreffenden beiden Rechtsstreitigkeiten ein so weit übereinstimmendes und voneinander untrennbares Interesse haben, nämlich das Interesse des betroffenen Kindes als Unterhaltsberechtigtem, dass eine Entscheidung, das gegen eine dieser Parteien ergeht, Rechtskraft gegenüber der anderen entfalten würde. In einem solchen Fall müssen diese Parteien als ein und dieselbe Partei i.S.v. Art. 12 EuUntVO angesehen werden. Hierfür spricht auch die in Art. 3 lit. c EuUntVO vorgesehene Möglichkeit, Kindesunterhalt als Annexverfahren im Scheidungsverbund geltend zu machen. Die zweite, kumulativ vorliegende Voraussetzung ist die Identität des Verfahrensgegenstandes. Die Verfahren müssen auf das gleiche Ziel gerichtet sein, weshalb es auf den jeweils mit dem Antrag geltend gemachten Anspruch und nicht etwa auf die vorgetragenen Einwendungen – beispielsweise die Aufrechnung – ankommt. Die jeweils anhängigen Verfahren in Deutschland und Belgien beziehen sich zwar allgemein auf die Zahlung von Unterhalt. Gleichwohl verfolgen sie aber nicht das gleiche Ziel und betreffen nicht denselben Zeitraum. Denn die Mutter begehrt von dem Vater die Erstattung die Kosten für die Unterbringung und den Unterhalt der gemeinsamen Tochter für einen begrenzten Zeitraum, während die Tochter die Barzahlung von Unterhalt ab November 2017 bis zu einem nicht genannten Zeitraum über ihre Volljährigkeit hinaus begehrt.


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