EuGH (Zehnte Kammer), Urt. 2.3.2023 - C-684/21
Ausschließlich technische Bedingtheit eines Gemeinschaftsgeschmackmusters – Papierfabriek Doetinchem (Papierspender)
Autor: RA Dr. Gabriel Wittmann, GvW Graf von Westphalen, Rechtsanwälte Steuerberater Partnerschaft mbB, München
Aus: IP-Rechtsberater, Heft 07/2023
Aus: IP-Rechtsberater, Heft 07/2023
1. Art. 8 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12.12.2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster ist dahin auszulegen, dass die Frage, ob die Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt im Sinne dieser Bestimmung sind, im Hinblick auf alle objektiven maßgeblichen Umstände des Einzelfalls, insbesondere diejenigen, die die Wahl dieser Merkmale leiten, das Bestehen alternativer Geschmacksmuster, durch die sich diese technische Funktion erfüllen lässt, und den Umstand, dass der Inhaber des betreffenden Geschmacksmusters auch Inhaber einer Vielzahl alternativer Geschmacksmuster ist, zu beurteilen ist, doch ist der zuletzt genannte Umstand für die Anwendung dieser Bestimmung nicht entscheidend.2. Art. 8 Abs. 1 VO (EG) Nr. 6/2002 ist dahin auszulegen, dass bei der Prüfung der Frage, ob die Erscheinungsform eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt ist, der Umstand, dass die Gestaltung dieses Erzeugnisses eine Mehrfarbigkeit zulässt, nicht zu berücksichtigen ist, wenn die Mehrfarbigkeit nicht aus der Eintragung des betreffenden Geschmacksmusters ersichtlich ist.
AEUV Art. 267; VO (EG) Nr. 6/2002 Art. 8 Abs. 1, Art. 10
Sprick, Herstellerin eines Packpapierspenders, ist Inhaberin des GGM Nr. 1344022-0006 in der Erzeugniskategorie „Packing Device“ (Verpackungsgerät), das in den drei folgenden Abb. im Register hinterlegt ist:
Die GGM-Inhaberin vertreibt u.a. das nachfolgend abgebildete, gelb- und weißfarbige Anwendungsbeispiel des GGM:
Papierfabriek Doetinchem produziert und vertreibt dieses Konkurrenzerzeugnis:
Das Verletzungsverfahren bis zur Vorlage des OLG Düsseldorf:Sprick hatte ursprünglich beim LG Düsseldorf gegen Papierfabriek Doetinchem u.a. auf Unterlassung geklagt, woraufhin die Beklagte Widerklage auf Nichtigerklärung des Klagemusters erhob, mit der Begründung, alle Merkmale des GGM seien allein durch die technische Funktion des betreffenden Erzeugnisses bedingt (Art. 8 Abs. 1 GGV).
Das LG Düsseldorf (Urt. v. 16.2.2017 – 37 O 79/16) gab den Anträgen von Sprick statt und wies die Widerklage von Papierfabriek Doetinchem mit der Begründung ab, die Merkmale des GGM seien angesichts des Bestehens „zahlreicher Gestaltungsalternativen“ nicht ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt.
Das OLG Düsseldorf (Urt. v. 27.6.2019 – 20 U 98/19) erklärte das Klagemuster auf Berufung der Beklagten für nichtig, weil sämtliche Merkmale durch die technische Funktion des genannten Erzeugnisses bedingt seien. In der von Sprick beanspruchten Patentoffenlegungsschrift EP 2 897 793 seien alle Merkmale des Erzeugnisses als technisch vorteilhaft erläutert worden. Das Bestehen „gangbarer Formalternativen“ sei nach der Entscheidung des EuGH in Sachen DOCERAM (Urt. v. 8.3.2018 – C-395/16, WRP 2018, 546) unerheblich.
Der BGH (Urt. v. 7.10.2020 – I ZR 137/19 – Papierspender) hob das Urteil des OLG Düsseldorf auf und verwies den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an dieses zurück. Das OLG Düsseldorf habe der Patentoffenlegungsschrift zu große Bedeutung beigemessen, die weiteren Umstände rechtsfehlerhaft gewürdigt und nicht sämtliche relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls berücksichtigt. Das OLG Düsseldorf hätte erwägen müssen, ob nicht bei der Ausgestaltung des betreffenden Erzeugnisses aus zwei verbundenen Bauteilen auch visuelle Erwägungen eine Rolle gespielt hätten, weil eine solche Gestaltung die Realisierung eines zweifarbigen Erzeugnisses ermögliche, wie das real vertriebene Erzeugnis zeige. Zudem habe das OLG Düsseldorf nicht außer Acht lassen dürfen, dass Sprick über eine Reihe von Geschmacksmustern für alternative Formen verfüge, mit denen sich dieselbe technische Funktion verfolgen lasse wie mit dem nach dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden GGM ausgeführten Erzeugnis. Zu einer Vorlage an den EuGH sah sich der BGH nicht veranlasst, weil die Feststellung und Würdigung der tatsächlichen Umstände, die für die Prüfung des Schutzausschlusses nach Art. 8 Abs. 1 GGV bedeutsam sind, nach DOCERAM den nationalen Gerichten obliege.
Die Vorlage des OLG Düsseldorf an den EuGH: Das als durchaus vorlagefreudig bekannte OLG Düsseldorf vertrat – entgegen der Segelanweisung des BGH – die Ansicht, Rz. 30 des DOCERAM-Urteils stütze eine Auslegung, wonach im Rahmen der in Art. 8 Abs. 1 GGV vorgesehenen Gesamtwürdigung der objektiven Umstände des Einzelfalls dem Bestehen anderweitiger GGM nur eine geringe Bedeutung zukomme, wenn der GGM-Inhaber auch für diese anderweitigen Gestaltungen GGM-Schutz in Anspruch nehme. Im Ergebnis verfolgt das OLG Düsseldorf insoweit den Aspekt, dass Designalternativen sich auf den Bewegungsradius Dritter auswirken können (Zentek in Zentek/Gerstein, DesignG; § 3 Rz. 87) und spielt auf ein „geschmacksmusterrechtliches Freihalteinteresse“ (Ruhl in Ruhl/Tolkmitt, GGV, Art. 8 Rz. 27) an, das sich womöglich in der Gewichtung der Gestaltungsalternativen im Rahmen der Gesamtwürdigung der objektiven Merkmale wiederfinden sollte.
Soweit der BGH beanstandet habe, das OLG Düsseldorf habe nicht geprüft, ob der aus dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden GGM ersichtlichen zweiteiligen Gestaltung des betreffenden Erzeugnisses nicht etwa visuelle Erwägungen zugrunde gelegen hätten, da diese Gestaltung eine nicht durch die technische Funktion des Erzeugnisses bedingte Zweifarbigkeit ermögliche, bemerkte das OLG Düsseldorf, dass eine Zweifarbigkeit nicht aus der Eintragung des in Rede stehenden GGM ersichtlich sei.
Unter diesen Umständen setzte das OLG Düsseldorf (Beschl. v. 4.11.2021 – 20 U 98/17) das Verfahren aus und legte dem Gerichtshof zum Art. 8 Abs. 1 GGV (ausschließliche technische Bedingtheit) die im Folgenden sinngemäß wiedergegebenen Fragen zur Vorabentscheidung vor:
(1) Welche Bedeutung kommt dem Umstand zu, dass der GGM-Inhaber auch für eine Vielzahl alternativer GGM über Musterrechte verfügt?
(2) Ist zu berücksichtigen, dass die Gestaltung eine Mehrfarbigkeit ermöglicht, wenn die farbliche Gestaltung als solche nicht aus der Eintragung ersichtlich ist?
(3) Für den Fall, dass Frage 2 zu bejahen ist: Hat dies Einfluss auf den Schutzumfang des GGM?
(1) Das Bestehen alternativer Gestaltungen (gleich wem diese zustehen) ist einer der im Rahmen der Prüfung des Art. 8 Abs. 1 GGV zu berücksichtigenden objektiven maßgeblichen Umstände des Einzelfalls, nicht der alleinige.
(2) Dass die Gestaltung des Erzeugnisses eine Mehrfarbigkeit zulässt, ist irrelevant, wenn die Mehrfarbigkeit nicht aus der Eintragung des betreffenden GGM ersichtlich ist.
Eine Beantwortung der Frage 3 erübrigte sich mit der Antwort des EuGH auf Frage 2.
AEUV Art. 267; VO (EG) Nr. 6/2002 Art. 8 Abs. 1, Art. 10
Das Problem
Das Urteil betrifft ein Vorabentscheidungsersuchen des OLG Düsseldorf um die Auslegung von Art. 8 Abs. 1 und Art. 10 der VO (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12.12.2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster („Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung“ oder „GGV“). Zu Grunde liegt ein länger andauernder Rechtstreit vor den deutschen Zivilgerichten zwischen der Papierfabriek Doetinchem BV und der Sprick GmbH Bielefelder Papier- und Wellpappenwerk & Co. wegen Verletzung von Rechten aus einem Gemeinschaftsgeschmacksmuster („GGM“).Sprick, Herstellerin eines Packpapierspenders, ist Inhaberin des GGM Nr. 1344022-0006 in der Erzeugniskategorie „Packing Device“ (Verpackungsgerät), das in den drei folgenden Abb. im Register hinterlegt ist:
Die GGM-Inhaberin vertreibt u.a. das nachfolgend abgebildete, gelb- und weißfarbige Anwendungsbeispiel des GGM:
Papierfabriek Doetinchem produziert und vertreibt dieses Konkurrenzerzeugnis:
Das Verletzungsverfahren bis zur Vorlage des OLG Düsseldorf:Sprick hatte ursprünglich beim LG Düsseldorf gegen Papierfabriek Doetinchem u.a. auf Unterlassung geklagt, woraufhin die Beklagte Widerklage auf Nichtigerklärung des Klagemusters erhob, mit der Begründung, alle Merkmale des GGM seien allein durch die technische Funktion des betreffenden Erzeugnisses bedingt (Art. 8 Abs. 1 GGV).
Das LG Düsseldorf (Urt. v. 16.2.2017 – 37 O 79/16) gab den Anträgen von Sprick statt und wies die Widerklage von Papierfabriek Doetinchem mit der Begründung ab, die Merkmale des GGM seien angesichts des Bestehens „zahlreicher Gestaltungsalternativen“ nicht ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt.
Das OLG Düsseldorf (Urt. v. 27.6.2019 – 20 U 98/19) erklärte das Klagemuster auf Berufung der Beklagten für nichtig, weil sämtliche Merkmale durch die technische Funktion des genannten Erzeugnisses bedingt seien. In der von Sprick beanspruchten Patentoffenlegungsschrift EP 2 897 793 seien alle Merkmale des Erzeugnisses als technisch vorteilhaft erläutert worden. Das Bestehen „gangbarer Formalternativen“ sei nach der Entscheidung des EuGH in Sachen DOCERAM (Urt. v. 8.3.2018 – C-395/16, WRP 2018, 546) unerheblich.
Der BGH (Urt. v. 7.10.2020 – I ZR 137/19 – Papierspender) hob das Urteil des OLG Düsseldorf auf und verwies den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an dieses zurück. Das OLG Düsseldorf habe der Patentoffenlegungsschrift zu große Bedeutung beigemessen, die weiteren Umstände rechtsfehlerhaft gewürdigt und nicht sämtliche relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls berücksichtigt. Das OLG Düsseldorf hätte erwägen müssen, ob nicht bei der Ausgestaltung des betreffenden Erzeugnisses aus zwei verbundenen Bauteilen auch visuelle Erwägungen eine Rolle gespielt hätten, weil eine solche Gestaltung die Realisierung eines zweifarbigen Erzeugnisses ermögliche, wie das real vertriebene Erzeugnis zeige. Zudem habe das OLG Düsseldorf nicht außer Acht lassen dürfen, dass Sprick über eine Reihe von Geschmacksmustern für alternative Formen verfüge, mit denen sich dieselbe technische Funktion verfolgen lasse wie mit dem nach dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden GGM ausgeführten Erzeugnis. Zu einer Vorlage an den EuGH sah sich der BGH nicht veranlasst, weil die Feststellung und Würdigung der tatsächlichen Umstände, die für die Prüfung des Schutzausschlusses nach Art. 8 Abs. 1 GGV bedeutsam sind, nach DOCERAM den nationalen Gerichten obliege.
Die Vorlage des OLG Düsseldorf an den EuGH: Das als durchaus vorlagefreudig bekannte OLG Düsseldorf vertrat – entgegen der Segelanweisung des BGH – die Ansicht, Rz. 30 des DOCERAM-Urteils stütze eine Auslegung, wonach im Rahmen der in Art. 8 Abs. 1 GGV vorgesehenen Gesamtwürdigung der objektiven Umstände des Einzelfalls dem Bestehen anderweitiger GGM nur eine geringe Bedeutung zukomme, wenn der GGM-Inhaber auch für diese anderweitigen Gestaltungen GGM-Schutz in Anspruch nehme. Im Ergebnis verfolgt das OLG Düsseldorf insoweit den Aspekt, dass Designalternativen sich auf den Bewegungsradius Dritter auswirken können (Zentek in Zentek/Gerstein, DesignG; § 3 Rz. 87) und spielt auf ein „geschmacksmusterrechtliches Freihalteinteresse“ (Ruhl in Ruhl/Tolkmitt, GGV, Art. 8 Rz. 27) an, das sich womöglich in der Gewichtung der Gestaltungsalternativen im Rahmen der Gesamtwürdigung der objektiven Merkmale wiederfinden sollte.
Soweit der BGH beanstandet habe, das OLG Düsseldorf habe nicht geprüft, ob der aus dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden GGM ersichtlichen zweiteiligen Gestaltung des betreffenden Erzeugnisses nicht etwa visuelle Erwägungen zugrunde gelegen hätten, da diese Gestaltung eine nicht durch die technische Funktion des Erzeugnisses bedingte Zweifarbigkeit ermögliche, bemerkte das OLG Düsseldorf, dass eine Zweifarbigkeit nicht aus der Eintragung des in Rede stehenden GGM ersichtlich sei.
Unter diesen Umständen setzte das OLG Düsseldorf (Beschl. v. 4.11.2021 – 20 U 98/17) das Verfahren aus und legte dem Gerichtshof zum Art. 8 Abs. 1 GGV (ausschließliche technische Bedingtheit) die im Folgenden sinngemäß wiedergegebenen Fragen zur Vorabentscheidung vor:
(1) Welche Bedeutung kommt dem Umstand zu, dass der GGM-Inhaber auch für eine Vielzahl alternativer GGM über Musterrechte verfügt?
(2) Ist zu berücksichtigen, dass die Gestaltung eine Mehrfarbigkeit ermöglicht, wenn die farbliche Gestaltung als solche nicht aus der Eintragung ersichtlich ist?
(3) Für den Fall, dass Frage 2 zu bejahen ist: Hat dies Einfluss auf den Schutzumfang des GGM?
Die Entscheidung des Gerichts
Der EuGH beantwortet die Vorlagefragen 1 und 2 gemäß den oben wiedergegebenen Leitsätzen. Vereinfacht heißt das:(1) Das Bestehen alternativer Gestaltungen (gleich wem diese zustehen) ist einer der im Rahmen der Prüfung des Art. 8 Abs. 1 GGV zu berücksichtigenden objektiven maßgeblichen Umstände des Einzelfalls, nicht der alleinige.
(2) Dass die Gestaltung des Erzeugnisses eine Mehrfarbigkeit zulässt, ist irrelevant, wenn die Mehrfarbigkeit nicht aus der Eintragung des betreffenden GGM ersichtlich ist.
Eine Beantwortung der Frage 3 erübrigte sich mit der Antwort des EuGH auf Frage 2.