Autor: RiOLG Dr. Dagny Liceni-Kierstein, Brandenburg
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 10/2011
Das unterhaltsberechtigte Kind verletzt nicht seine aus dem Gegenseitigkeitsverhältnis folgende Obliegenheit, seine Ausbildung innerhalb einer angemessenen Zeit aufzunehmen, wenn es während der ihm zuzubilligenden Orientierungsphase schwanger wird und sich zunächst bis zur Vollendung des dritten Lebensjahrs – und ggf. Zubilligung einer anschließenden Übergangszeit – der Betreuung des eigenen Kindes widmet.
BGH, Urt. v. 29.6.2011 - XII ZR 127/09
Vorinstanz: OLG Frankfurt - 6 UF 31/09
BGB §§ 1601, 1610 Abs. 2, 1611 Das Problem:
Die im Jahr 1981 geborene Klägerin verlangt von ihrem Vater (anteiligen) Ausbildungsunterhalt. Nach Ablegung des Abiturs im Sommer 2001 leistete sie bis Juli 2002 ein freiwilliges soziales Jahr ab. Im Januar 2003 brachte die Klägerin ein Kind zur Welt, das sie bis September 2006 betreute. Anschließend studierte sie von Oktober 2006 bis August 2009 Sozialpädagogik. Mit ihrer Klage hat die nicht verheiratete Klägerin, die von dem Vater ihres Kindes keinen Unterhalt erhält, vom Beklagten Ausbildungsunterhalt für die Zeit ab Juni 2008 begehrt. Das AG hat die Klage abgewiesen. Auf ihre Berufung hat das OLG der Klage teilweise stattgegeben und der Klägerin unter bedarfsmindernder Anrechnung der ihr gewährten Vorausleistungen nach § 36 BAföG Unterhalt i.H.v. 129 € für Juni 2008 und monatlich 209 € für die Zeit von Juli 2008 bis August 2009 zuerkannt. Dagegen richtet sich die Revision des Vaters. Die Entscheidung des Gerichts:
Der BGH hat das Rechtsmittel zurückgewiesen. Anknüpfend an seine bisherige Rspr. (BGH v. 4.3.1998 – XII ZR 173/96, FamRZ 1998, 671) stellt er fest, dass das Ausbildungsverhältnis zwischen Eltern und Kind vom Gegenseitigkeitsprinzip geprägt ist. Der aus § 1610 Abs. 2 BGB folgenden Verpflichtung der Eltern zur Ermöglichung einer angemessenen, der Begabung, Neigung und dem Leistungswillen des Kindes entsprechenden Berufsausbildung steht auf Seiten des unterhaltsberechtigten Kindes eine Ausbildungsobliegenheit gegenüber. Daher muss das Kind die einmal gewählte Ausbildung mit Fleiß und der gebotenen Zielstrebigkeit durchführen sowie in angemessener und üblicher Zeit beenden. Aus dem Gegenseitigkeitsverhältnis folgt aber auch die Obliegenheit des Kindes, sich nach dem Abgang von der Schule innerhalb einer angemessenen Übergangszeit für eine seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechenden Ausbildung zu entscheiden und mit dieser zu beginnen. Wie die Dauer dieser angemessenen Orientierungsphase für die Berufsfindung und Aufnahme der Berufsausbildung zu bemessen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Als Kriterien können z.B. das Alter, der Entwicklungsstand, der bisherige Werdegang und die gesamten Lebensumstände des Auszubildenden dienen. Ferner fällt ins Gewicht, inwieweit Zeiträume betroffen sind, in denen steuerliche Erleichterungen, Kindergeld oder kindbezogene Gehaltsbestandteile aufgrund des fortgeschrittenen Alters des Kindes unabhängig von seinem Ausbildungsstand wegfallen. Allerdings gibt es keine feste Altersgrenze für die Aufnahme einer Ausbildung. Maßgeblich für die Frage, bis wann es dem unterhaltsberechtigten Kind obliegt, mit seiner Ausbildung zu beginnen, ist, ob den Eltern unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände trotz der eingetretenen Verzögerung die Leistung von Ausbildungsunterhalt in den Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit noch zumutbar ist. An einer Verletzung der Ausbildungsobliegenheit fehlt es, wenn das ausbildungsberechtigte Kind – wie hier – während der ihm zuzubilligenden Orientierungsphase schwanger wird und infolge einer bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres andauernden Betreuung des eigenen Kindes seine Ausbildung verzögert beginnt. Wie sich aus verschiedenen in bürgerlich-, sozial- und sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften enthaltenen gesetzlichen Wertungen (§§ 1615l BGB, 24 Abs. 1 SGB VIII, 15 BEEG, 56 SGB VI) ergibt, muss dem erziehungsberechtigten Elternteil eine persönliche Betreuung in den ersten drei Lebensjahren seines Kindes möglich sein. Diese Grundentscheidung strahlt auch auf das Unterhaltsverhältnis zwischen Eltern und ausbildungsberechtigtem Kind aus. Neben der dreijährigen Betreuungszeit kann anschließend eine weitere angemessene Übergangszeit bis zur Aufnahme der Ausbildung zugebilligt werden. Von diesen Grundsätzen ausgehend hat der BGH einen (lediglich zeitlich versetzten) Anspruch der Klägerin auf Ausbildungsunterhalt dem Grunde nach und in der vom OLG zuerkannten Höhe bejaht.