OLG Dresden, Beschl. 7.4.2020 - 4 U 2805/19

Beschlussverfügung gegen Twitter

Autor: RA Dr. Ilja Czernik, Berlin
Aus: IP-Rechtsberater, Heft 08/2020
Der Grundsatz der Parteizustellung einer einstweiligen Verfügung ist im Anwendungsbereich der EuZustVO zu modifizieren. Ist eine Parteizustellung nach dem Recht des Empfangsstaates unzulässig, kann diese vom Gläubiger nicht verlangt werden. Für den Vollziehungswillen genügt es dann, wenn der Gläubiger die Auslandszustellung durch das Gericht innerhalb der Vollziehungsfrist veranlasst. Die Zustellung ohne Übersetzung der Entscheidung in die Sprache des Empfangslandes ist fristwahrend insbesondere wenn der Empfänger der Gerichtssprache mächtig ist. Die Meinungsfreiheit ist auch von Social-Media-Plattformen wie Twitter wegen der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte zu beachten. Zulässige Meinungsäußerungen dürfen deswegen durch die Social-Media-Plattform nicht gesperrt werden. Tun sie dies doch, kann ein Anspruch auf Aufhebung der Sperre aus § 241 BGB in Verbindung mit dem zwischen den Parteien bestehenden Nutzungsvertrag bestehen. Die Aufhebung der Sperrung eines Social Media Beitrages im Verfügungsverfahren führt zu einer temporären Vorwegnahme der Hauptsache. Deswegen ist das Aufhebungsinteresse mit dem (ebenfalls die Hauptsache temporär vorwegnehmenden) Sperrinteresse der Social Media Plattform abzuwägen.

ZPO §§ 191, 183, 522 Abs. 2, 1069; EuZustVO Art. 8, 15

Das Problem

Der Kläger nutzt seinen Twitter-Account mit 1.500 Followern für seine politische Arbeit auch soweit er sich um politische Ämter bewirbt. Wegen mehrerer in diesem Zusammenhang abgesetzter Tweets hatte die Beklagte unter Berufung auf ihre Allgemeinen Nutzungsbedingungen namentlich die Richtlinie zur Integrität der Wahlen den Twitter-Account des Klägers gesperrt. Der Kläger wollte dies nicht akzeptieren und beantragte darauf beim LG die Aufhebung der Sperrung im Beschlusswege. Das LG gab dem Antrag statt. Die vom LG erlassene Verfügung ließ der Kläger über das Gericht bei der Beklagten in Irland zustellen, wobei das Formblatt nach Art. 8 Abs. 1 EuZustVO nicht mit der Beschlussverfügung, sondern erst mit dem Antrag auf Festsetzung der Ordnungsmittel zugestellt worden sein soll. Die Beklagte legte daraufhin gegen die Entscheidung des Lg Berufung ein.

Entscheidungsgründe

Das OLG Dresden teilte der Beklagten auf ihre Berufung hin mit, dass es diese nach § 522 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückzuweisen beabsichtige, da sie in der Sache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hätte.

Soweit eine unterbliebene Parteizustellung als Vollziehungsmangel im Raum stehe, sei die Verfügung deswegen gleichwohl nicht aufzuheben. Die im Verfügungsverfahren geltenden Grundsätze der Parteizustellung seien im Anwendungsbereich der EuZustVO zu modifizieren, weil dort eine Parteizustellung nur unter den Voraussetzungen des Art. 15 EuZustVO in Betracht komme. Dies setze jedoch voraus, dass die Parteizustellung nach dem Recht des Empfangsmitgliedsstaates überhaupt zulässig sei, was in Irland, dem Sitz der Beklagten indes nicht der Fall sei. Folgerichtig könne diese von dem Kläger weder vorgenommen, noch verlangt werden. Nach dem ausdrücklich angeordneten Vorrang des Europäischen Zustellungsrechts (§ 183 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) sei vielmehr die Zustellung im Parteibetrieb durch eine Zustellung durch das Gericht auf Veranlassung der Partei nach §§ 191, 183, 1069 ZPO i.V.m. Art. 14 EuZustVO zu ersetzen, weswegen es ausreiche, innerhalb der Vollziehungsfrist den Antrag auf Auslandszustellung bei Gericht einzureichen, soweit die tatsächliche Zustellung „demnächst“ i.S.v. § 167 ZPO, d.h. insbesondere ohne jede vom Gläubiger zu vertretende Verzögerung bewirkt werde. Dies sei hier erfolgt.

Etwas anderes folge nicht daraus, dass die Beklagte das nach Art. 8 Abs. 1 EuZustVO erforderliche Formblatt nicht mit der einstweiligen Verfügung, sondern nur mit dem Antrag auf Festsetzung eines Ordnungsgeldes erhalten habe will. Zwar kann der unterbliebene Hinweis auf ein Annahmeverweigerungsrecht dazu führen, dass das Verfahren nicht fortgesetzt werden, und ein dennoch ergehendes Urteil wegen Art. 22 lit. b nicht anerkannt werden dürfe. Allerdings lasse eine fehlende Belehrung über das Annahmeverweigerungsrecht die Wirksamkeit der Zustellung in den Fällen unberührt, in denen der Schuldner ohnehin nicht berechtigt gewesen wäre, die Annahme zu verweigern. Ein solcher Fall liege hier jedoch vor. Denn die Beklagte sei der deutschen Sprache i Sid Art. 8 Abs. 1 S. 1a) EuZustVO hinreichend mächtig gewesen, hätte sie doch eine Vereinbarung mit dem Kläger in deutschen Sprache als Vertragssprache geschlossen und die tatsächliche Korrespondenz in der vereinbarten Sprache geführt. Zudem richte sie ihr Angebot (in deutscher Sprache) unstreitig in Deutschland an mehrere Millionen Kunden.

Ebenso sei es für die „demnächst“ Anforderung i. S. v. § 167 ZPO unerheblich gewesen, dass der Kläger erst durch telefonischen Anruf vom 23.8.2019 darüber informiert wurde, dass zum Nachweis der Zustellung noch kein AR-Schein vorliege. Auf eine rein zeitliche Betrachtungsweise komme es insoweit nicht an, da er keinen Einfluss auf eine ordnungsgemäße Zustellung durch das LG gehabt habe. Soweit der Kläger am 26.8.2019 um erneute Zustellung gebeten wurde, sei diese am 29.8.2019 durch das LG veranlasst worden.

Der Kläger sei nicht gehalten gewesen, die einstweilige Verfügung im Parteibetrieb an die Prozessbevollmächtigten der Beklagten zuzustellen. Wenn die Bestellung eines Prozessbevollmächtigten – wie hier – erst nach Ausführung der Zustellung, aber noch vor dem tatsächlichen Zugang an die Partei erfolgt sei, bedürfe es keiner weiteren Zustellung an den Prozessbevollmächtigten. Eine solche Zustellung sei hier sogar erfolgt, weswegen ein etwaiger Zustellungsmangel ohnehin nach § 189 ZPO geheilt gewesen wäre.

Neben der ordnungsgemäßen Vollziehung sei des Weiteren auch ein Verfügungsanspruch aus § 241 BGB in Verbindung mit dem zwischen den Parteien bestehenden Nutzungsvertrag anzunehmen gewesen. Ein Anspruch auf Unterlassung der Sperre seines Twitter-Accounts wegen der in Rede stehenden Äußerung sei gegeben.

Die in Rede stehenden Tweets würden nicht gegen die allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beklagten, namentlich die Richtlinie zur Integrität der Wahlen verstoßen. Grundsätzlich könne der Betreiber eines sozialen Netzwerkes zwar seine Verhaltensregeln auch durch Entfernung eines rechtswidrigen Inhalts oder durch Sperrung eines Nutzer-Accounts durchsetzen. Die Beklagte habe hier allerdings bereits nicht glaubhaft gemacht, die Richtlinie zur Integrität von Wahlen vom April 2019 wirksam in den Nutzungsvertrag mit dem Kläger einbezogen zu haben. Dass er der Einbeziehung dieser Richtlinie etwa durch Anklicken eines Links ausdrücklich zugestimmt habe, habe der Kläger bestritten. Auf Ziff. 6 der als Anlage ASt 2 vorgelegten „Twitter Allgemeine Geschäftsbedingungen“ könne sich die Beklagte für die wirksame Einbeziehung nicht berufen. Die dort enthaltene Klausel „wir sind berechtigt, diese Bedingungen ggf. von Zeit zu Zeit zu überarbeiten“, verstoße gegen § 307 BGB i.V.m. den aus § 308 Nr. 4 und 5 BGB abzuleitenden Wertungen, da hieraus ein umfassendes, einseitiges und damit unzulässiges Leistungsänderungsrecht der Beklagten folge.

Dessen ungeachtet sei die Äußerung des Klägers vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 GG geschützt, weswegen die Beklagten wegen der mittelbare Drittwirkung der Grundrechte gewährleisten müsse, dass eine zulässige Meinungsäußerung nicht von der Plattform entfernt werden dürfe. Zwar sei auf Seiten der Plattformanbieter deren „virtuelles Hausrecht“ zu berücksichtigen. Doch selbst wenn man unterstelle, dass hier die Grundsätze der Richtlinie zur Integrität von Wahlen vom April 2019 Anwendung fänden, verstoße der Kläger nicht hiergegen. Denn die Aussagen, die zur Sperrung geführt hätten, seien klar erkennbar als Satire zu verstehen.

Es bestehe auch ein Verfügungsgrund gem. §§ 935, 940 ZPO. Zwar sei bei einem Dauerschuldverhältnis – wie hier – die Untersagung der Sperrung für die Zeitdauer bis zu Entscheidung in der Hauptsache nicht nachholbar und damit endgültig. Dies gelte aber im gleichen Maße auch für die Zeitdauer in der die Sperrung des Accounts fortbestehe. Hierbei müsse eine Abwägung der gegenseitigen Interessen stattfinden, bei der auch der Inhalt der beanstandeten Äußerung berücksichtigt werden kann. Es handele sich hier nicht um eine Hassrede oder einen Aufruf zur Gewalt und auch um keine Äußerung, bei der der Beklagten die Inanspruchnahme durch Dritte drohen könnte. Ein Nachteil für die Beklagte bei einer zeitweisen Untersagung der Sperrung sei nicht erkennbar. Anders sei dies beim Kläger, der zur Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit auf seinen Twitter-Account angewiesen sei und auch nicht auf seinen Zweit-Account verwiesen werden könne, da dieser lediglich 400 Follower ausweise und insofern keinen gleichwertigen Ersatz darstelle. Wegen der anstehenden Landtagswahl und der ausgeübten Berufstätigkeit war für den Kläger die Nutzung seines Accounts zumal besonders eilbedürftig.


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