OLG Frankfurt, Beschl. 28.8.2019 - 5 UF 97/19
Keine Aufhebung im EU-Ausland mit über 16-Jähriger wirksam geschlossener Ehe bei Eingriff in Freizügigkeit
Autor: RiAG Alexander Erbarth, Greiz
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 11/2019
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 11/2019
Wurde eine Ehe unter Beteiligung eines Minderjährigen, der das 16. Lebensjahr vollendet hatte, im EU-Ausland mit einem gerichtlichen Dispens nach dem dort geltenden Recht (hier: Bulgarien) wirksam geschlossen, so kann die Ehe in Deutschland im Regelfall nicht nach § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB aufgehoben werden, weil die ansonsten verletzten Rechte der Ehegatten auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV und die Rechte auf Arbeitnehmerfreizügigkeit und Aufenthalt nach Art. 45 Abs. 3 lit. b und c AEUV zur Annahme einer schweren Härte i.S.d. § 1315 Abs. 1 Nr. 1b BGB führen.
OLG Frankfurt, Beschl. v. 28.8.2019 - 5 UF 97/19
Vorinstanz: AG Gießen, Beschl. v. 11.2.2019
AEUV Art. 21, Art. 45 Abs. 3 lit. b, lit. c; EGBGB Art. 13 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 2; BGB § 1303 S. 1, § 1314 Abs. 1 Nr. 1, § 1315 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b, § 1316 Abs. 3 S. 2
Die Frage der Aufhebbarkeit einer Ehe entsprechend § 1314, § 1303 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB stellt sich zunächst grundsätzlich nur dann, wenn die Ehe nach dem anwendbaren ausländischen Recht wirksam geschlossen worden ist. Unterliegen nach Art. 13 Abs. 1 EGBGB die Voraussetzungen der Eheschließung für jeden Verlobten ja dem Recht des Staates, dem er angehört, d.h. im Fall des OLG Frankfurt bulgarischem Recht. Dieses nimmt die Verweisung des Art. 13 Abs. 1 EGBGB an, bestimmen sich nach Art. 76 bulgar. IPRGB die materiellen Eheschließungsvoraussetzungen nach dem Heimatrecht eines jeden Verlobten zum Zeitpunkt der Eheschließung. Ehemündigkeit tritt nach bulgarischem Recht gem. Art. 6 Abs. 1 bulgar. FamGB erst mit Vollendung des 18. Lebensjahres ein. Nach Art. 6 Abs. 2 bulgar. FamGB kann ein über 16 Jahre alter Minderjähriger jedoch aus wichtigem Grund eine richterliche Erlaubnis zur Heirat erlangen. Die Regelung entspricht also den bis zum 21.7.2017 geltenden Bestimmungen des deutschen materiellen Eheschließungsrechts nach § 1303 Abs. 2 bis Abs. 4 BGB a.F. Im Gegensatz zu den drei früheren Entscheidungen prüft das OLG Frankfurt das Vorliegen der erforderlichen Einwilligung.
Die zuständigen Verwaltungsbehörden gingen in allen Entscheidungen von einer ihrerseitigen Pflicht zur Stellung des Aufhebungsantrags nach § 1316 Abs. 3 Satz 2 BGB aus, hier sogar von der Pflicht, Beschwerde einzulegen. Einmal kann eine derartige Pflicht europarechtswidrig sein: Schon der Aufhebungsantrag ist selbst bei Drittstaatsangehörigen ein staatlicher Eingriff in die nach Art. 21 AEUV garantierte Personenfreizügigkeit. Dies folgt aus der Entscheidung des EuGH vom 5.6.2018 (EuGH v. 5.6.2018 – C-673/16, ECLI:EU:C:2018:385, FamRZ 2018, 1063 ff.). Für Unionsbürger gilt die Richtlinie 2004/38: Sie soll die Ausübung des elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwächst, erleichtern und bezweckt, dieses Recht zu verstärken (EuGH v. 5.6.2018 – C-673/16, ECLI:EU:C:2018:385, FamRZ 2018, 1063, 1064 Rz. 18 m.w.N. zur Rspr. des Gerichtshofs). Schon der Aufhebungsantrag der Verwaltungsbehörde und das durch diesen eingeleitete Aufhebungsverfahren ist eine empfindliche Störung des Ehelebens und zwar insbesondere dann, wenn ein besonderer Härtefall vorliegen sollte, der nach § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b BGB eine gerichtliche Aufhebung im Ergebnis verhindern wird. Der klare Wortlaut schließt zwar eine europarechtskonforme Auslegung des § 1316 Abs. 3 Satz 2 BGB aus, die Verwaltungsbehörde hätte aber wegen des Vorrangs des Europarechts von der Antragstellung absehen müssen (Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 130 sub IV. 1.). Auch das aus Art. 21 AEUV herzuleitende Anerkennungsprinzip führt hier zur Europarechtswidrigkeit des Antrags (EuGH v. 5.6.2018 – C-673/16, ECLI:EU:C:2018:385, FamRZ 2018, 1063 für eine gleichgeschlechtliche Ehe). Außerdem kommt ein Ausschluss der Antragspflicht wegen zwischenzeitlich erfolgter Heilung der Ehe durch Bestätigung nach Erreichen der Volljährigkeit gem. § 1316 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BGB in Betracht. Die Vorschrift stellt nicht ausdrücklich auf die Volljährigkeit nach deutschem Recht ab, sie bestimmt sich somit gem. Art. 7 Abs. 1 Satz 1 EGBGB nach bulgarischem Recht; das gilt gem. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EGBGB auch für die Erweiterung der Geschäftsfähigkeit durch Eheschließung. Denn das bulgarische Recht nimmt die Verweisung an, Art. 48 bulgar. IPRGB. Nun begründet gem. Art. 6 Abs. 4 bulgar. FamGB die Eheschließung die Geschäftsfähigkeit, es gilt der Grundsatz „Heirat macht mündig”, mit der Folge, dass die minderjährige Ehefrau aufgrund der nach ihrem Heimatrecht wirksamen Eheschließung als Volljährige zu behandeln ist (Coester-Waltjen, IPrax 2017, 429, 433; IPrax 2019, 127, 130; Dutta, FamRZ 2018, 1150; Erbarth, FamRB 2018, 340). So entfällt sowohl die Antragspflicht der Verwaltungsbehörde nach § 1316 Abs. 3 Satz 2 BGB und ist auch die gerichtliche Aufhebung nach § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a BGB ausgeschlossen. Das Ergebnis widerspricht allerdings der mit § 1316 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2, § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a BGB verfolgten Regelungsabsicht – der deutsche Gesetzgeber hat den Grundsatz „Heirat macht mündig” und Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EGBGB übersehen. Eine die wirksame Eheschließung verneinende selbstständige Vorfragenanknüpfung, scheidet, weil zirkulär, bei dem Grundsatz „Heirat macht mündig” aus: Geht es doch gerade um die Heilung dieser nach dem Auslandsstatut wirksamen nicht aufhebbaren, aus Sicht des deutschen Rechts jedoch aufhebbaren Ehe (Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 130; Dutta, FamRZ 2018, 1150 zu Art. 229 § 44 Abs. 4 Nr. 2 EGBGB). In Betracht kommt, bei Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EGBGB zwischen der durch die Heirat erreichten Geschäftsfähigkeit und der Volljährigkeit zu unterscheiden, also die Ehefrau als geschäftsfähig, nicht aber volljährig zu behandeln (so Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 130). Im Ergebnis scheint es klarer, Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EGBGB im Wege einer teleologischen Reduktion der Vorschrift aufgrund des Zwecks der § 1303 Satz 1, § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a, § 1316 Abs. 3 Satz 2 BGB, Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB nicht anzuwenden.
Vor allem aber stellt sich die Frage der Verfassungswidrigkeit des Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB: Es fehlt eine Übergangsregelung für vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen bis einschließlich 21.7.2017 nach ausländischem Recht wirksam geschlossene Ehen. Art. 229 § 44 Abs. 2 EGBGB bestimmt lediglich für vor Inkrafttreten des § 1303 Satz 1 BGB – also für nach dem bis zum 21.7.2017 geltenden deutschen Recht geschlossene Ehen –, dass deren Aufhebung ausgeschlossen ist, wenn die Befreiung vom Erfordernis der Volljährigkeit nach § 1303 Abs. 2 bis Abs. 4 BGB vorlag. Hingegen wird für bis zum 21.7.2017 unter Anwendung ausländischen Rechts im Ausland nach ausländischem Recht wirksam geschlossene Ehen, d.h. auch nach damaligem deutschen internationalen Privatrecht wirksame Ehen, uneingeschränkt die Anwendung des Art. 13 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB und also die grundsätzliche Aufhebung vorgesehen. Die Rechtslage entspricht hier insoweit derjenigen bei Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB und vom BGH in seinem Beschluss vom 14.11.2018 (BGH v. 14.11.2018 – XII ZB 292/16, FamRZ 2019, 181 m. Anm. Hettich = FamRB 2019, 47) als Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG angesehenen: Ehen unter Beteiligung von Minderjährigen werden, je nachdem ob sie nach inländischem oder ausländischem Recht vor dem 22.7.2017 wirksam geschlossen worden sind, ohne sachliche Rechtfertigung unterschiedlich behandelt. Auch die zur Begründung eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG benannten Gründe treffen hier ebenso zu (s. hierzu insgesamt überzeugend Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 129 f.).
Lässt man die Verfassungswidrigkeit des Art. 13 Abs. 3 Nr. 3 EGBGB außer Betracht, bejaht die Zulässigkeit des Aufhebungsantrags trotz Europarechtswidrigkeit und verneint zugleich die Heilung durch Bestätigung nach § 1316 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BGB, ist die entscheidende Frage, ob die Aufhebung der Ehe für den minderjährigen Ehegatten „eine so schwere Härte” darstellen würde, dass ihre Aufrechterhaltung „ausnahmsweise geboten erscheint”, § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a BGB. Es besteht das Problem, dass sich die Anwendung der Härteklausel nach den Vorstellungen des Gesetzgebers einerseits auf gravierende Einzelfälle beschränken soll, andererseits eine Verletzung des europarechtlichen Freizügigkeitsgrundsatzes ausgeschlossen sein soll. Die Aporie der Normzwecke lässt sich durch Ausfüllung der angehäuften unbestimmten Rechtsbegriffe mit einer „Addition des ´Ungewöhnlichen`” (Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 131) mit methodischen Mitteln beheben. Die auch in der Entscheidung des OLG Frankfurt genannten Abwägungskriterien sind durch den Wortlaut der Vorschrift kaum gedeckt und mit diesem nur dann in Einklang zu bringen, wenn man das in den Motiven des Gesetzgebers implizierte „Schreckensbild der Minderjährigenehe mit einer unterdrückten, sozial isolierten, unfreien Minderjährigen” als die „normalen Umstände” der Minderjährigenehe und alle Abweichungen davon als „außergewöhnliche Umstände” wertet (Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 131). Nach der zutreffenden sog. subjektiven Auslegungstheorie (Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 11. Aufl. 2016, § 4 Rz. 44 ff. m. umfangreichen w.N.) geht der sich aus dem Willen des Gesetzgebers ergebende Normzweck dem Wortlaut jedenfalls dann vor, wenn der Gesetzeswortlaut keine sachgerechte und vernünftige Regelung zum Ausdruck bringt und die divergierende Regelungsabsicht nicht abwegig ist. Der Gesetzgeber wollte keine europarechtswidrige, insbesondere dem Freizügigkeitsgrundsatz widersprechende Regelung schaffen, weshalb eine solches Verständnis im Wege der teleologischen Reduktion zu befürworten ist (im Ergebnis auch Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 131 f.; a.A. Schiefer in jurisPK/BGB, § 1316 Rz. 13.1.).
OLG Frankfurt, Beschl. v. 28.8.2019 - 5 UF 97/19
Vorinstanz: AG Gießen, Beschl. v. 11.2.2019
AEUV Art. 21, Art. 45 Abs. 3 lit. b, lit. c; EGBGB Art. 13 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 2; BGB § 1303 S. 1, § 1314 Abs. 1 Nr. 1, § 1315 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b, § 1316 Abs. 3 S. 2
Das Problem
Die Entscheidung betrifft – wie diejenigen des AG Frankenthal (AG Frankenthal v. 15.2.2018 – 71 F 268/17, FamRZ 2018, 749) sowie des AG Nordhorn (AG Nordhorn v. 29.1.2018 – 11 F 855/17 E1, FamRZ 2018, 750 f.) als Vorinstanz des OLG Oldenburg (OLG Oldenburg v. 18.4.2018 – 13 UF 23/18, FamRZ 2018, 1152 = FamRB 2018, 296) – erneut die Aufhebbarkeit einer zwischen EU-Bürgern im EU-Ausland unter Beteiligung einer über 16-jährigen Minderjährigen geschlossenen Ehe. Schwerpunkt sämtlicher Entscheidungen ist die schwierige Frage, ob die Aufhebung der Ehe „eine so schwere Härte für den minderjährigen Ehegatten darstellen würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahmsweise geboten erscheint” (§ 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b BGB). Alle Gerichte haben das Vorliegen einer schweren Härte bejaht, stützen sich freilich in unterschiedlichem Umfang auf unterschiedliche rechtliche Aspekte, die Literatur äußert sich teilweise sehr kritisch (insbesondere Majer, NZFam 2018, 609, 610; in mancher Hinsicht auch Löhnig, FamRZ 2018, 749, 750) – das Spektrum der Argumente ist dementsprechend groß, die Rechtslage für die betroffenen Ehegatten schwer einzuschätzen. Mit der besonders praxisrelevanten Frage der Unzulässigkeit des Antrags der Verwaltungsbehörde trotz Antragspflicht nach § 1316 Abs. 3 Satz 2 BGB beschäftigen sich die Gerichte nicht, sie soll hier ebenso in den Blick genommen werden wie die bislang einzig von Coester-Waltjen (Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 129 f.) aufgeworfene und zutreffend verneinte Frage der Verfassungsmäßigkeit des Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB.Die Frage der Aufhebbarkeit einer Ehe entsprechend § 1314, § 1303 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB stellt sich zunächst grundsätzlich nur dann, wenn die Ehe nach dem anwendbaren ausländischen Recht wirksam geschlossen worden ist. Unterliegen nach Art. 13 Abs. 1 EGBGB die Voraussetzungen der Eheschließung für jeden Verlobten ja dem Recht des Staates, dem er angehört, d.h. im Fall des OLG Frankfurt bulgarischem Recht. Dieses nimmt die Verweisung des Art. 13 Abs. 1 EGBGB an, bestimmen sich nach Art. 76 bulgar. IPRGB die materiellen Eheschließungsvoraussetzungen nach dem Heimatrecht eines jeden Verlobten zum Zeitpunkt der Eheschließung. Ehemündigkeit tritt nach bulgarischem Recht gem. Art. 6 Abs. 1 bulgar. FamGB erst mit Vollendung des 18. Lebensjahres ein. Nach Art. 6 Abs. 2 bulgar. FamGB kann ein über 16 Jahre alter Minderjähriger jedoch aus wichtigem Grund eine richterliche Erlaubnis zur Heirat erlangen. Die Regelung entspricht also den bis zum 21.7.2017 geltenden Bestimmungen des deutschen materiellen Eheschließungsrechts nach § 1303 Abs. 2 bis Abs. 4 BGB a.F. Im Gegensatz zu den drei früheren Entscheidungen prüft das OLG Frankfurt das Vorliegen der erforderlichen Einwilligung.
Die zuständigen Verwaltungsbehörden gingen in allen Entscheidungen von einer ihrerseitigen Pflicht zur Stellung des Aufhebungsantrags nach § 1316 Abs. 3 Satz 2 BGB aus, hier sogar von der Pflicht, Beschwerde einzulegen. Einmal kann eine derartige Pflicht europarechtswidrig sein: Schon der Aufhebungsantrag ist selbst bei Drittstaatsangehörigen ein staatlicher Eingriff in die nach Art. 21 AEUV garantierte Personenfreizügigkeit. Dies folgt aus der Entscheidung des EuGH vom 5.6.2018 (EuGH v. 5.6.2018 – C-673/16, ECLI:EU:C:2018:385, FamRZ 2018, 1063 ff.). Für Unionsbürger gilt die Richtlinie 2004/38: Sie soll die Ausübung des elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwächst, erleichtern und bezweckt, dieses Recht zu verstärken (EuGH v. 5.6.2018 – C-673/16, ECLI:EU:C:2018:385, FamRZ 2018, 1063, 1064 Rz. 18 m.w.N. zur Rspr. des Gerichtshofs). Schon der Aufhebungsantrag der Verwaltungsbehörde und das durch diesen eingeleitete Aufhebungsverfahren ist eine empfindliche Störung des Ehelebens und zwar insbesondere dann, wenn ein besonderer Härtefall vorliegen sollte, der nach § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b BGB eine gerichtliche Aufhebung im Ergebnis verhindern wird. Der klare Wortlaut schließt zwar eine europarechtskonforme Auslegung des § 1316 Abs. 3 Satz 2 BGB aus, die Verwaltungsbehörde hätte aber wegen des Vorrangs des Europarechts von der Antragstellung absehen müssen (Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 130 sub IV. 1.). Auch das aus Art. 21 AEUV herzuleitende Anerkennungsprinzip führt hier zur Europarechtswidrigkeit des Antrags (EuGH v. 5.6.2018 – C-673/16, ECLI:EU:C:2018:385, FamRZ 2018, 1063 für eine gleichgeschlechtliche Ehe). Außerdem kommt ein Ausschluss der Antragspflicht wegen zwischenzeitlich erfolgter Heilung der Ehe durch Bestätigung nach Erreichen der Volljährigkeit gem. § 1316 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BGB in Betracht. Die Vorschrift stellt nicht ausdrücklich auf die Volljährigkeit nach deutschem Recht ab, sie bestimmt sich somit gem. Art. 7 Abs. 1 Satz 1 EGBGB nach bulgarischem Recht; das gilt gem. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EGBGB auch für die Erweiterung der Geschäftsfähigkeit durch Eheschließung. Denn das bulgarische Recht nimmt die Verweisung an, Art. 48 bulgar. IPRGB. Nun begründet gem. Art. 6 Abs. 4 bulgar. FamGB die Eheschließung die Geschäftsfähigkeit, es gilt der Grundsatz „Heirat macht mündig”, mit der Folge, dass die minderjährige Ehefrau aufgrund der nach ihrem Heimatrecht wirksamen Eheschließung als Volljährige zu behandeln ist (Coester-Waltjen, IPrax 2017, 429, 433; IPrax 2019, 127, 130; Dutta, FamRZ 2018, 1150; Erbarth, FamRB 2018, 340). So entfällt sowohl die Antragspflicht der Verwaltungsbehörde nach § 1316 Abs. 3 Satz 2 BGB und ist auch die gerichtliche Aufhebung nach § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a BGB ausgeschlossen. Das Ergebnis widerspricht allerdings der mit § 1316 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2, § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a BGB verfolgten Regelungsabsicht – der deutsche Gesetzgeber hat den Grundsatz „Heirat macht mündig” und Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EGBGB übersehen. Eine die wirksame Eheschließung verneinende selbstständige Vorfragenanknüpfung, scheidet, weil zirkulär, bei dem Grundsatz „Heirat macht mündig” aus: Geht es doch gerade um die Heilung dieser nach dem Auslandsstatut wirksamen nicht aufhebbaren, aus Sicht des deutschen Rechts jedoch aufhebbaren Ehe (Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 130; Dutta, FamRZ 2018, 1150 zu Art. 229 § 44 Abs. 4 Nr. 2 EGBGB). In Betracht kommt, bei Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EGBGB zwischen der durch die Heirat erreichten Geschäftsfähigkeit und der Volljährigkeit zu unterscheiden, also die Ehefrau als geschäftsfähig, nicht aber volljährig zu behandeln (so Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 130). Im Ergebnis scheint es klarer, Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EGBGB im Wege einer teleologischen Reduktion der Vorschrift aufgrund des Zwecks der § 1303 Satz 1, § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a, § 1316 Abs. 3 Satz 2 BGB, Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB nicht anzuwenden.
Vor allem aber stellt sich die Frage der Verfassungswidrigkeit des Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB: Es fehlt eine Übergangsregelung für vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen bis einschließlich 21.7.2017 nach ausländischem Recht wirksam geschlossene Ehen. Art. 229 § 44 Abs. 2 EGBGB bestimmt lediglich für vor Inkrafttreten des § 1303 Satz 1 BGB – also für nach dem bis zum 21.7.2017 geltenden deutschen Recht geschlossene Ehen –, dass deren Aufhebung ausgeschlossen ist, wenn die Befreiung vom Erfordernis der Volljährigkeit nach § 1303 Abs. 2 bis Abs. 4 BGB vorlag. Hingegen wird für bis zum 21.7.2017 unter Anwendung ausländischen Rechts im Ausland nach ausländischem Recht wirksam geschlossene Ehen, d.h. auch nach damaligem deutschen internationalen Privatrecht wirksame Ehen, uneingeschränkt die Anwendung des Art. 13 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB und also die grundsätzliche Aufhebung vorgesehen. Die Rechtslage entspricht hier insoweit derjenigen bei Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB und vom BGH in seinem Beschluss vom 14.11.2018 (BGH v. 14.11.2018 – XII ZB 292/16, FamRZ 2019, 181 m. Anm. Hettich = FamRB 2019, 47) als Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG angesehenen: Ehen unter Beteiligung von Minderjährigen werden, je nachdem ob sie nach inländischem oder ausländischem Recht vor dem 22.7.2017 wirksam geschlossen worden sind, ohne sachliche Rechtfertigung unterschiedlich behandelt. Auch die zur Begründung eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG benannten Gründe treffen hier ebenso zu (s. hierzu insgesamt überzeugend Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 129 f.).
Lässt man die Verfassungswidrigkeit des Art. 13 Abs. 3 Nr. 3 EGBGB außer Betracht, bejaht die Zulässigkeit des Aufhebungsantrags trotz Europarechtswidrigkeit und verneint zugleich die Heilung durch Bestätigung nach § 1316 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BGB, ist die entscheidende Frage, ob die Aufhebung der Ehe für den minderjährigen Ehegatten „eine so schwere Härte” darstellen würde, dass ihre Aufrechterhaltung „ausnahmsweise geboten erscheint”, § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a BGB. Es besteht das Problem, dass sich die Anwendung der Härteklausel nach den Vorstellungen des Gesetzgebers einerseits auf gravierende Einzelfälle beschränken soll, andererseits eine Verletzung des europarechtlichen Freizügigkeitsgrundsatzes ausgeschlossen sein soll. Die Aporie der Normzwecke lässt sich durch Ausfüllung der angehäuften unbestimmten Rechtsbegriffe mit einer „Addition des ´Ungewöhnlichen`” (Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 131) mit methodischen Mitteln beheben. Die auch in der Entscheidung des OLG Frankfurt genannten Abwägungskriterien sind durch den Wortlaut der Vorschrift kaum gedeckt und mit diesem nur dann in Einklang zu bringen, wenn man das in den Motiven des Gesetzgebers implizierte „Schreckensbild der Minderjährigenehe mit einer unterdrückten, sozial isolierten, unfreien Minderjährigen” als die „normalen Umstände” der Minderjährigenehe und alle Abweichungen davon als „außergewöhnliche Umstände” wertet (Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 131). Nach der zutreffenden sog. subjektiven Auslegungstheorie (Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 11. Aufl. 2016, § 4 Rz. 44 ff. m. umfangreichen w.N.) geht der sich aus dem Willen des Gesetzgebers ergebende Normzweck dem Wortlaut jedenfalls dann vor, wenn der Gesetzeswortlaut keine sachgerechte und vernünftige Regelung zum Ausdruck bringt und die divergierende Regelungsabsicht nicht abwegig ist. Der Gesetzgeber wollte keine europarechtswidrige, insbesondere dem Freizügigkeitsgrundsatz widersprechende Regelung schaffen, weshalb eine solches Verständnis im Wege der teleologischen Reduktion zu befürworten ist (im Ergebnis auch Coester-Waltjen, IPrax 2019, 127, 131 f.; a.A. Schiefer in jurisPK/BGB, § 1316 Rz. 13.1.).