Präs. EuG, Beschl. 27.9.2023 - T-367/23 R
Vorläufiger Rechtsschutz für Online-Plattform bzgl. Empfehlungssystemen und Werbeverzeichnissen
Autor: RA Markus Rössel, LL.M. (Informationsrecht), Köln
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 11/2023
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 11/2023
Der Benennungsbeschluss gem. Art. 33 Abs. 4 DSA zur Einordnung von Amazon Store als sehr große Online-Plattform wird hinsichtlich der Pflicht zur Veröffentlichung eines Werbearchivs gem. Art. 39 DSA ausgesetzt.
VO (EU) 2022/2065 Artt. 33 Abs. 4, 38, 39
Keine offensichtliche Unzulässigkeit: Die insb. angegriffenen Artt. 38, 39 DSA bildeten nicht die formelle Rechtsgrundlage für den Benennungsbeschluss. Die mittelbare Rüge der Rechtswidrigkeit einer Norm sei nur dann zulässig, wenn sie in direkter rechtlicher Verbindung zum angefochtenen Rechtsakt stehe, er also sachlich im Wesentlichen auf der Norm beruhe. Ergebnis des Benennungsbeschlusses sei die Anwendung der nicht künstlich zu trennenden Normen. Art. 277 AEUV solle eine gerichtliche Überprüfung von allgemein gültigen Rechtsakten auch dann ermöglichen, wenn die Betroffenen von unmittelbarer Anfechtung ausgeschlossen seien (Rz. 10–17 m.w.N.).
Anordnungsvoraussetzungen: Voraussetzung gem. Artt. 278, 279, 256 Abs. 1 AEUV i.V.m. Artt. 156 Abs. 4, 157 Abs. 2, 158 VerfO EuG sei die bestehende Dringlichkeit zur Vermeidung eines schweren und irreversiblen Schadens des Antragstellers, die tatsächlich und rechtlich hinreichende Erfolgsaussicht der Klage sowie eine Interessenabwägung (Rz. 20 ff., 26 m.w.N.).
Keine Dringlichkeit bei Empfehlungssystemen: Art. 38 DSA verbiete nicht personalisierte Empfehlungssysteme, sondern verlange nur eine Abmeldemöglichkeit, über deren Nutzung allein der Verbraucher entscheide, der vom Antragsteller vollumfänglich über mögliche Nachteile informiert werden könne. Bei negativen Erfahrungen in Bezug auf das Einkaufserlebnis und Kundenerwartungen aufgrund der Anzeige von Produkten geringerer Relevanz könnten die Verbraucher ihre Entscheidung revidieren. Daher sei nicht gewiss, dass ein Kundenverlust drohe. Dringlichkeit bestehe demgegenüber aber nur beim Nachweis eines ausreichend wahrscheinlichen Eintritts eines schweren Schadens (Rz. 30 f., 35–41 m.w.N.).
Grundsätzlich reversibler Vermögensschaden: Unabhängig vom fraglichen Kundenverlust stelle der behauptete Rückgang an Marktanteilen gegenüber Online-Marktplätzen und Einzelhändlern einen bezifferbaren Vermögensschaden durch den Verlust künftiger Verkaufserlöse dar. Dessen Kompensation gewährleiste grundsätzlich eine Schadensersatzklage gem. Artt. 268, 340 AEUV. Anderes gelte beim drohenden Verschwinden vom Markt, also wenn die finanzielle Grundlage gefährdet oder der Marktanteil unter Berücksichtigung u.a. von Unternehmensgröße, Umsatz und ggf. Konzernmerkmalen schwer beeinträchtigt würde (Rz. 28 f., 42–46 m.w.N.).
Keine schwere Marktanteilsbeeinträchtigung: Der Marktanteil müsse insb. im Hinblick auf die Unternehmensgröße hinreichend groß sein, wobei Konzernmerkmale zu berücksichtigen seien. Die Wiedererlangung eines wesentlichen Teils des Marktanteils müsse aufgrund struktureller oder rechtlicher Hindernisse unmöglich sein. Vorliegend werde nicht einmal die Unternehmensgefährdung samt maßgeblicher Kriterien geltend gemacht. Amazon lege abgesehen von einer Schätzung von 0,5 bis 3,8 Mrd. USD keine buchhalterischen Zahlen zum Schadensnachweis vor. Die Behauptung mangelnder Quantifizierbarkeit aufgrund des hochdynamischen und wettbewerbsintensiven Markts sei zurückzuweisen (Rz. 34, 46–50 m.w.N.).
Keine berücksichtigungsfähigen Drittinteressen: Die Dringlichkeit lasse sich nicht auf eine Beeinträchtigung von Rechten Dritter, wie hier von kleinen und mittelständischen Drittanbietern, oder des Allgemeininteresses stützen. Ein Drittschaden dürfe nur i.R.d. Interessenabwägung berücksichtigt werden (Rz. 33, 51–54 m.w.N.).
Dringlichkeit bzgl. Werbearchiv: Bei der Geltendmachung eines Schadens wegen der Offenlegung angeblich vertraulicher Informationen müsse von ihrer tatsächlichen Vertraulichkeit ausgegangen werden. Die Schadensgefahr hänge u.a. vom beruflichen und geschäftlichen Nutzen der Informationen für das Unternehmen und andere Marktteilnehmer ab. Die Offenlegung ermögliche den Zugang zu erheblichen Geschäftsgeheimnissen der Werbekunden, wie Kampagnendauer, -reichweite und Targeting-Parameter. So könnten Wettbewerber und andere Werbepartner kontinuierlich Markteinblicke über wirksamste Strategien und Technologien gewinnen (Rz. 57, 61–64 m.w.N.).
Schwere und Irreversibilität des Schadens: Da die Offenlegung einen umfassenden und sehr detaillierten Einblick in die sensiblen Geschäftsbeziehungen mit den Werbekunden verschaffen würde, könne dies auch die Transparenz auf dem fraglichen Markt exponentiell und künstlich erhöhen. Die Aufhebung des Benennungsbeschlusses im Hauptsacheverfahren könne die Wirkungen des Art. 39 DSA nicht rückgängig machen (Rz. 65–69).
Erfolgsaussicht des Anordnungsanspruchs: Die geltend gemachte Beeinträchtigung des Grundsatzes der Gleichbehandlung und der Artt. 7, 16, 17 GRC durch die Verpflichtung zum Werbearchiv erscheine nicht offensichtlich unbegründet. Durch den Wettbewerbern ermöglichten, kontinuierlichen Markteinblick würden die Geschäftsbeziehungen zu den Werbekunden gestört. Schließlich sei erheblicher Implementierungsaufwand erforderlich und würden laufende Kosten verursacht. Das Ziel der Überwachung und Erforschung neu auftretender Risiken von Online-Werbung könne auch durch angemessenen Geheimnisschutz gewährleistenden Datenzugang i.S.v. Art. 40 Abs. 8 DSA für autorisierte Aufsichtsbehörden und Forscher erreicht werden (Rz. 71 ff.).
Keine vorausgehenden Publikationspflichten: Zumindest ein Teil der zu veröffentlichenden Informationen sei zuvor noch nicht öffentlich zugänglich gemacht worden. Die Informationspflichten nach Art. 6 lit. b ECRL oder Art. 26 Abs. 1 lit. a–c DSA umfassten dem ersten Anschein nach nicht die Dauer der Anzeige von Werbung i.S.v. Art. 39 Abs. 2 lit. d DSA. Entsprechend beträfen Art. 26 Abs. 1 lit. d DSA und Art. 5 Abs. 1 P2B-VO auch nicht die Empfängerzahl i.S.v. Art. 39 Abs. 2 lit. g DSA. Dies gelte schließlich auch für die Informationspflichten zur automatisierten Entscheidungsfindung einschließlich Profiling gem. Art. 15 Abs. 1 lit. h DSGVO. Insofern entbehre dieser geltend gemachte Klagegrund dem ersten Anschein nach nicht einer ernsten Grundlage, die im Hauptsacheverfahren zu prüfen sei (Rz. 60, 74–79).
Interessenabwägung: Im Hauptsacheverfahren sei über die Nichtigkeit des Benennungsbeschlusses zu entscheiden, da er zur Erstellung und Veröffentlichung des Werbearchivs verpflichte. Um ggf. die praktische Wirkung einer Nichtigerklärung zu erhalten, müsse die rechtswidrige Informationsverbreitung verhindert werden. Folglich überwiege das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse hinsichtlich der Veröffentlichung. Dies gelte nicht für die Erstellung des Archivs (Rz. 80–84).
VO (EU) 2022/2065 Artt. 33 Abs. 4, 38, 39
Das Problem
Amazon Services Europe Sàrl (i.F. Amazon) mit Sitz in Luxemburg hat wegen Verstoßes gegen Grundrechte und Gleichbehandlungsgrundsatz beim EuG am 5.7.2023 Klage nach Artt. 263, 264, 277 AEUV auf Nichtigerklärung des Benennungsbeschlusses der EU-Kommission v. 25.4.2023 – C(2023) 2746 final zur Einordnung von Amazon Store als sehr große Online-Plattform (VLOP) gem. Art. 33 Abs. 4 DSA sowie den Verpflichtungen zu Empfehlungssystemen ohne Profiling i.S.v. Art. 4 Nr. 4 DSGVO (Art. 38 DSA) und zur Erstellung und Veröffentlichung eines Werbearchivs (Art. 39 DSA) erhoben.Die Entscheidung des Gerichts
Die Vollzugsaussetzung nach Artt. 278, 279 AEUV des Benennungsbeschlusses bis zur Hauptsacheentscheidung werde nur bzgl. des Archivs und nur hinsichtlich dessen Veröffentlichung bewilligt.Keine offensichtliche Unzulässigkeit: Die insb. angegriffenen Artt. 38, 39 DSA bildeten nicht die formelle Rechtsgrundlage für den Benennungsbeschluss. Die mittelbare Rüge der Rechtswidrigkeit einer Norm sei nur dann zulässig, wenn sie in direkter rechtlicher Verbindung zum angefochtenen Rechtsakt stehe, er also sachlich im Wesentlichen auf der Norm beruhe. Ergebnis des Benennungsbeschlusses sei die Anwendung der nicht künstlich zu trennenden Normen. Art. 277 AEUV solle eine gerichtliche Überprüfung von allgemein gültigen Rechtsakten auch dann ermöglichen, wenn die Betroffenen von unmittelbarer Anfechtung ausgeschlossen seien (Rz. 10–17 m.w.N.).
Anordnungsvoraussetzungen: Voraussetzung gem. Artt. 278, 279, 256 Abs. 1 AEUV i.V.m. Artt. 156 Abs. 4, 157 Abs. 2, 158 VerfO EuG sei die bestehende Dringlichkeit zur Vermeidung eines schweren und irreversiblen Schadens des Antragstellers, die tatsächlich und rechtlich hinreichende Erfolgsaussicht der Klage sowie eine Interessenabwägung (Rz. 20 ff., 26 m.w.N.).
Keine Dringlichkeit bei Empfehlungssystemen: Art. 38 DSA verbiete nicht personalisierte Empfehlungssysteme, sondern verlange nur eine Abmeldemöglichkeit, über deren Nutzung allein der Verbraucher entscheide, der vom Antragsteller vollumfänglich über mögliche Nachteile informiert werden könne. Bei negativen Erfahrungen in Bezug auf das Einkaufserlebnis und Kundenerwartungen aufgrund der Anzeige von Produkten geringerer Relevanz könnten die Verbraucher ihre Entscheidung revidieren. Daher sei nicht gewiss, dass ein Kundenverlust drohe. Dringlichkeit bestehe demgegenüber aber nur beim Nachweis eines ausreichend wahrscheinlichen Eintritts eines schweren Schadens (Rz. 30 f., 35–41 m.w.N.).
Grundsätzlich reversibler Vermögensschaden: Unabhängig vom fraglichen Kundenverlust stelle der behauptete Rückgang an Marktanteilen gegenüber Online-Marktplätzen und Einzelhändlern einen bezifferbaren Vermögensschaden durch den Verlust künftiger Verkaufserlöse dar. Dessen Kompensation gewährleiste grundsätzlich eine Schadensersatzklage gem. Artt. 268, 340 AEUV. Anderes gelte beim drohenden Verschwinden vom Markt, also wenn die finanzielle Grundlage gefährdet oder der Marktanteil unter Berücksichtigung u.a. von Unternehmensgröße, Umsatz und ggf. Konzernmerkmalen schwer beeinträchtigt würde (Rz. 28 f., 42–46 m.w.N.).
Keine schwere Marktanteilsbeeinträchtigung: Der Marktanteil müsse insb. im Hinblick auf die Unternehmensgröße hinreichend groß sein, wobei Konzernmerkmale zu berücksichtigen seien. Die Wiedererlangung eines wesentlichen Teils des Marktanteils müsse aufgrund struktureller oder rechtlicher Hindernisse unmöglich sein. Vorliegend werde nicht einmal die Unternehmensgefährdung samt maßgeblicher Kriterien geltend gemacht. Amazon lege abgesehen von einer Schätzung von 0,5 bis 3,8 Mrd. USD keine buchhalterischen Zahlen zum Schadensnachweis vor. Die Behauptung mangelnder Quantifizierbarkeit aufgrund des hochdynamischen und wettbewerbsintensiven Markts sei zurückzuweisen (Rz. 34, 46–50 m.w.N.).
Keine berücksichtigungsfähigen Drittinteressen: Die Dringlichkeit lasse sich nicht auf eine Beeinträchtigung von Rechten Dritter, wie hier von kleinen und mittelständischen Drittanbietern, oder des Allgemeininteresses stützen. Ein Drittschaden dürfe nur i.R.d. Interessenabwägung berücksichtigt werden (Rz. 33, 51–54 m.w.N.).
Dringlichkeit bzgl. Werbearchiv: Bei der Geltendmachung eines Schadens wegen der Offenlegung angeblich vertraulicher Informationen müsse von ihrer tatsächlichen Vertraulichkeit ausgegangen werden. Die Schadensgefahr hänge u.a. vom beruflichen und geschäftlichen Nutzen der Informationen für das Unternehmen und andere Marktteilnehmer ab. Die Offenlegung ermögliche den Zugang zu erheblichen Geschäftsgeheimnissen der Werbekunden, wie Kampagnendauer, -reichweite und Targeting-Parameter. So könnten Wettbewerber und andere Werbepartner kontinuierlich Markteinblicke über wirksamste Strategien und Technologien gewinnen (Rz. 57, 61–64 m.w.N.).
Schwere und Irreversibilität des Schadens: Da die Offenlegung einen umfassenden und sehr detaillierten Einblick in die sensiblen Geschäftsbeziehungen mit den Werbekunden verschaffen würde, könne dies auch die Transparenz auf dem fraglichen Markt exponentiell und künstlich erhöhen. Die Aufhebung des Benennungsbeschlusses im Hauptsacheverfahren könne die Wirkungen des Art. 39 DSA nicht rückgängig machen (Rz. 65–69).
Erfolgsaussicht des Anordnungsanspruchs: Die geltend gemachte Beeinträchtigung des Grundsatzes der Gleichbehandlung und der Artt. 7, 16, 17 GRC durch die Verpflichtung zum Werbearchiv erscheine nicht offensichtlich unbegründet. Durch den Wettbewerbern ermöglichten, kontinuierlichen Markteinblick würden die Geschäftsbeziehungen zu den Werbekunden gestört. Schließlich sei erheblicher Implementierungsaufwand erforderlich und würden laufende Kosten verursacht. Das Ziel der Überwachung und Erforschung neu auftretender Risiken von Online-Werbung könne auch durch angemessenen Geheimnisschutz gewährleistenden Datenzugang i.S.v. Art. 40 Abs. 8 DSA für autorisierte Aufsichtsbehörden und Forscher erreicht werden (Rz. 71 ff.).
Keine vorausgehenden Publikationspflichten: Zumindest ein Teil der zu veröffentlichenden Informationen sei zuvor noch nicht öffentlich zugänglich gemacht worden. Die Informationspflichten nach Art. 6 lit. b ECRL oder Art. 26 Abs. 1 lit. a–c DSA umfassten dem ersten Anschein nach nicht die Dauer der Anzeige von Werbung i.S.v. Art. 39 Abs. 2 lit. d DSA. Entsprechend beträfen Art. 26 Abs. 1 lit. d DSA und Art. 5 Abs. 1 P2B-VO auch nicht die Empfängerzahl i.S.v. Art. 39 Abs. 2 lit. g DSA. Dies gelte schließlich auch für die Informationspflichten zur automatisierten Entscheidungsfindung einschließlich Profiling gem. Art. 15 Abs. 1 lit. h DSGVO. Insofern entbehre dieser geltend gemachte Klagegrund dem ersten Anschein nach nicht einer ernsten Grundlage, die im Hauptsacheverfahren zu prüfen sei (Rz. 60, 74–79).
Interessenabwägung: Im Hauptsacheverfahren sei über die Nichtigkeit des Benennungsbeschlusses zu entscheiden, da er zur Erstellung und Veröffentlichung des Werbearchivs verpflichte. Um ggf. die praktische Wirkung einer Nichtigerklärung zu erhalten, müsse die rechtswidrige Informationsverbreitung verhindert werden. Folglich überwiege das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse hinsichtlich der Veröffentlichung. Dies gelte nicht für die Erstellung des Archivs (Rz. 80–84).