Zur Haftung des Vorstands(mitglieds) einer Aktiengesellschaft

16.05.2012, Autor: Herr Hartmut Göddecke / Lesedauer ca. 8 Min. (1884 mal gelesen)
Die Haftung des Vorstands ist seit der ARAG/Garmenbeck-Grundsatz-Entscheidung des BGH als aktienrechtlicher Evergreen anzusehen und neben den aktuellen Entwicklungen zu den Vorstandsverfassungsthemen immer wieder ein Hot Spot in den Gerichtssälen (OLG Frankfurt/M., Urteil vom 17.08.2011, Az. 13 U 100/10). Gesetzesänderungen, Korruptionsfälle, Finanzkrise und Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern haben ein Problembewusstsein und eine damit verbundene Auseinandersetzung in Öffentlichkeit, Rechtsprechung und Literatur geschaffen.

Ausgangspunkt ist, dass dem Vorstand ein Handlungsspielraum für seine unternehmerische Tätigkeit eingeräumt wird, und gerade dieser Freiraum bei diesen Entscheidungen eine Ursache für die Spannungen zwischen Vorstand und Gesellschaft – im Regelfall vertreten durch den Aufsichtsrat – sein kann. In der Folge wird bei einem wirtschaftlichen Schieflaufen unternehmerischer Entscheidungen häufig versucht, den Vorstand in Haftung zu nehmen.

I. Unternehmerische Entscheidung

1. Abgrenzung unternehmerische Entscheidung und Pflichtverletzung

Zentrale Norm für die Haftung des Vorstands findet sich in § 93 AktG. Nach § 93 Abs. 1 S. 2 AktG ist negativ bestimmt, dass eine Sorgfaltspflichtverletzung nicht vorliegt, wenn und soweit es sich um eine unternehmerische Entscheidung des Vorstandmitglieds handelt, bei der das Vorstandsmitglied vernünftigerweise, auf der Grundlage angemessener Informationen, annehmen durfte, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.

Die unternehmerische Freiheit ist also gesetzlich normierter Haftungsausschluss. Zu beachten ist weiterhin, dass es sich bei der Norm nicht um eine bloße Beweislastregel, sondern um eine unwiderlegbare Vermutung objektiv pflichtkonformen Verhaltens handelt.

Voraussetzungen für den Haftungsausschluss sind folgende fünf Voraussetzungen:

1. Es muss eine unternehmerische Entscheidung vorliegen.
2. Das Vorstandsmitglied muss gutgläubig sein.
3. Das Handeln des Vorstandsmitglieds muss frei von Sonderinteressen und sachfremden Einflüssen sein.
4. Das Vorstandsmitglied handelt zum Wohle der Gesellschaft.
5. Das Vorstandsmitglied handelt auf Grundlage angemessener Informationen.

2. Entstehung

§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG wurde von dem Gesetzgeber aufgrund der ARAG/Garmenbeck-Grundsatz-Entscheidung des BGH vom 21.04.1997 (Az. II ZR 175/95) durch das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts eingeführt. In zitierten Entscheidung hat der BGH festgelegt, dass dem Vorstand zur Leitung der Geschäfte „ein weiter Handlungsspielraum zugebilligt werden muss, ohne den eine unternehmerische Entscheidung schlechterdings undenkbar wäre“.

Sinn und Zweck ist es, den Vorstand „seine Arbeit machen zu lassen“, ohne dass er sich der Gefahr ausgesetzt sieht, für jede Fehlbeurteilung oder Fehlentscheidung haften zu müssen. Denn zur unternehmerischen Tätigkeit gehört es unter Umständen auch riskante Geschäfte zu tätigen; jedenfalls soweit sie sich im Rahmen der geltenden Gesetzes bewegen. Die Unternehmensleitung würde andernfalls erheblich eingeschränkt und damit in die Kernaufgabe des Vorstands eingegriffen werden, wenn dieser aus Besorgnis einer möglichen Haftung nur noch „sichere Entscheidung“ treffen würde.

Eine Haftung kommt nur bei Überschreitung des unternehmerischen Ermessensspielraums in Betracht. Die Größe der Spielfläche, die genutzt werden kann, muss anhand des Einzelfalls entschieden werden.

Hierzu hat die Rechtsprechung jüngst entschieden, dass der unternehmerische Ermessensspielraum dem AG-Vorstand sogar eine Handeln gegen die Interessen eines (Haupt-) Aktionärs erlaubt. Außerdem ist bei der Prüfung, ob ein Vorstand ein unvertretbares Risiko eingegangen ist, die unternehmensnahe Eigenbeurteilung des Gesamtvorstandes sowie der Aufsichtsratsmitglieder als wesentliches Indiz heranzuziehen.

3. Sorgfalts- und Treuepflichten

Dieser Haftungsausschluss darf jedoch nicht als eine Freizeichnung innerhalb des geltenden Rechts verstanden werden, denn er setzt die Einhaltung von Sorgfaltspflichten voraus. Nach wie vor haftet ein Vorstandsmitglied, wenn es bei der unternehmerischen Tätigkeit seine Sorgfalts- und Treuepflichten verletzt. Ein Vorstandsmitglied hat gem. § 93 Abs. 1 S. 1 AktG bei seiner Tätigkeit die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Unter Treuepflichten versteht man, dass das Vorstandsmitglied bei allen Handlungen, die das Interesse der Gesellschaft berühren, deren „Wohl und Wehe“ berücksichtigt.

Zunächst scheint eine Haftung aufgrund des Haftungssauschlusses nach § 93 Abs. 1 S. 2 AktG und auf Grund des weiten Handlungsspielraums, der dem Vorstand sowohl von der Rechtsprechung als auch von der Literatur eingeräumt wird, nur sehr eingeschränkt möglich. Auch könnte man den Eindruck gewinnen, dass eine Haftung nur in den bekannt gewordenen Extremfällen durchsetzbar ist. Tatsächlich ist es aber so, dass die Haftungsfälle und die Haftungsgefahr von Vorstandsmitgliedern aufgrund der Präsenz des Themas und einer Bewusstseinsänderung in Öffentlichkeit und Justiz in den letzten Jahren immanent gestiegen ist.

II. Darlegungs- und Beweislast im Prozess

Bestehen Uneinigkeiten über die Verletzung von Sorgfalts- und Treupflichten des Vorstands bei seiner unternehmerischen Tätigkeit und steht eine gerichtliche Geltendmachung der Innenhaftung im Raum, muss für den Ausgang des Zivilgerichtsverfahrens auch immer die Darlegungs- und Beweislast beachtet werden.

Grundsätzlich muss jede Partei die für sie günstigen Voraussetzungen einer Norm beweisen. Das heißt, der Anspruchsteller muss grundsätzlich das Vorliegen der anspruchsbegründenden Voraussetzungen beweisen, der Anspruchsgegner das Vorliegen die rechtsvernichtenden, rechtshindernden und rechtshemmenden Einreden. Damit muss grundsätzlich die Aktiengesellschaft die Haftungsvoraussetzungen darlegen und beweisen, wenn sie ihren Vorstand auf Schadenersatz verklagt. Das scheint interessengerecht, hat sie doch – zumindest theoretisch – die Möglichkeit des Zugriffs auf die gesamten Unterlagen der Aktiengesellschaft; allerdings darf dabei auch nicht verkannt werden, dass sich in vielen Fällen der Zusammenhang aus den Unterlagen sich erst mit den Informationen zu einem kompletten Bild verdichtet, die das angegangene Vorstandsmitglied für sich behalten hat.

1. Beweislastumkehr / Entlastungsbeweis

Eine von diesem Grundsatz abweichende Regel enthält § 93 Abs. 2 S. 2 AktG. Nach dieser Beweislastumkehrregel hat das Vorstandsmitglied zu beweisen, dass es seiner Sorgfalt genügt hat und dass es kein Verschulden trifft oder dass der Schaden auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten wäre (Urteil des BGH vom 22.02.2011, Az. II ZR 146/09).

Dies hat zur Folge, dass die Gesellschaft zunächst nur noch ein möglicherweise pflichtwidriges Verhalten des Vorstandsmitglieds, den Eintritt und die Höhe des entstandenen Schadens sowie die Kausalität zwischen Vorstandshandeln und Schaden darzulegen und zu beweisen hat. Die Pflichtwidrigkeit wird sodann vermutet und in der Folge ist das Vorstandsmitglied in der Pflicht.

Damit ist das Vorstandsmitglied einem hohen Haftungsrisiko ausgesetzt. Denn der Entlastungsbeweis wird dem Vorstandsmitglied nur selten gelingen, da er nach ganz herrschender Meinung sowohl sein pflichtgemäßes als auch sein schuldloses Handeln beweisen muss.

So erweisen sich für ein Vorstandsmitglied insbesondere komplexe und anspruchsvolle Entscheidungen als gefährlich, denn es wird häufig „etwas geben, was man noch hätte tun können“, oder „Informationen, die man noch hätte einholen können“ oder man hätte ggf. eine Versicherung gegen absehbare Risiken abzuschließen können.

Alternativ kann das Vorstandsmitglied sich nur noch exkulpieren, indem es beweist, dass es sich bei dem möglicherweise pflichtwidrigen Verhalten um eine unternehmerische Entscheidung i.S.v. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG handelt. Aber auch dazu muss er dessen fünf Voraussetzungen (s.o.) beweisen.

Begründet wird die Beweislastumkehr hinsichtlich einer ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführung damit, dass nur das Vorstandsmitglied selbst sein Verhalten, die Gründe auf denen es basiert und alle zu berücksichtigten Aspekte kennt, während die Aktiengesellschaft in Beweisnot wäre.

Außerdem wird angeführt, dass eine Überspannung der Darlegungs- und Beweislast dadurch verhindert wird, dass zunächst die Aktiengesellschaft einen möglichen Pflichtverstoß darlegen muss, das Vorstandsmitglied muss nur diesem entgegentreten.

2. Anforderungen in der Praxis

Auch wenn hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast bei der Haftung eines Vorstandsmitglieds die Rechtsprechung in der Theorie homogen erscheint, so werden doch die Anforderungen in der Praxis divergierend bewertet.

Dies soll vorliegend am Beispiel des Verfahrensgangs des Urteils des BGH vom 22.02.2011 dargestellt werden. Hier beurteilten die drei Instanzgerichte den Vortrag der Klägerin bezüglich einer möglichen Haftung des beklagten Vorstands und dessen Vortrag zu seiner Entlastung unterschiedlich.

Inhaltlich geht es um die Haftung eines ehemaligen Vorstandsmitglieds einer Aktiengesellschaft. Das Vorstandsmitglied war Niederlassungsleiter einer Filiale und entschied sich im Jahr 2002 für eine Erweiterung der Räumlichkeiten und der Ausweitung des Personals. Grundlage war eine erhebliche Umsatzsteigerung in den letzten beiden Jahren. Der Umsatzverlauf entwickelte sich jedoch nicht wie erwartet; die Gesellschaft verklagt das Vorstandsmitglied nun auf Euro 820.000,00 Schadensersatz und erhebt darüber hinaus einen Feststellungsantrag bzgl. weiterer Schäden.

Verfahrensgang

1. Das Landgericht Düsseldorf begründete die Abweisung der Klage damit, dass das möglicherweise pflichtwidrige Verhalten des Vorstandsmitglieds, welches zu den in Ansatz gebrachten Schäden geführt habe, von der klagenden Aktiengesellschaft jedenfalls nicht hinreichend dargelegt worden sei (Urteil vom 29.02.2008, Az. 40 O 52/07).

2. In der zweiten Instanz wurde sodann das Oberlandesgericht Düsseldorf angerufen (Urteil vom 14. 05.2009, Az.: I-6 U 29/08.). (Die Klägerin hat insoweit den erstinstanzlichen Feststellungsantrag für erledigt erklärt.) Den Zahlungsantrag hielt das Gericht dem Grunde nach für gerechtfertigt. Denn nach dessen Auffassung hat die Klägerin durch ihren Vortrag ein möglichweise pflichtwidriges und schuldhaftes Verhalten - entgegen der Auffassung der ersten Instanz - substantiiert dargelegt.

3. In der letzten Instanz hat sich dann der Bundesgerichtshof mit der Sache beschäftigt (Urteil vom 22.02.2011 Az. II ZR 146/09). Der BGH hat ausdrücklich festgestellt, dass der Ausgangspunkt (die Darlegungs- und Beweislast bei der Vorstandshaftung nach den oben ausgeführten Ansätzen) von dem OLG als Berufungsgericht richtig gewählt wurde. Inhaltlich hat es den Ausführungen des OLG zum substantiierten Vortrag der Klägerin bezüglich einer möglichen Pflichtverletzung durch das beklagte Vorstandsmitglied bestätigt. Der BGH weicht jedoch hinsichtlich der Bewertung des Vortrags des Beklagten, also bezüglich der Entlastungspflicht des Vorstandsmitglieds und den Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG, von der Auffassung des Berufungsgerichts ab und betont, „da es sich bei der dem Beklagten zur Last gelegten Pflichtverletzung um eine unternehmerische Entscheidung geht, die nicht allein deshalb pflichtwidrig ist, weil sie nicht den erstrebten Erfolg hatte, ist der Beklagte gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG schon dann entlastet, wenn er vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Informationen und zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. … Die Würdigung des Berufungsgerichts, der Beklagte habe keinen derartigen Vortrag gehalten, hält der revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand.“

III. Fazit

Einigkeit besteht insoweit, dass der Haftungssauschluss nach § 93 Abs. 1 S. 2 AktG die Haftung des Vorstands für seine unternehmerische Tätigkeit für die Fälle ausschließt, bei denen der Vorstand seine Sorgfalts- und Treupflichten ggf. trotz Fehlentscheidung oder Fehlbewertung eingehalten hat.

Im Prozess ist der Haftungsausschluss nach § 93 Abs. 1 S. 2 AktG dann von dem Vorstand zu beweisen. Dies entspricht den allgemeinen Regeln des Darlegungs- und Beweisrechts, auch wenn dies für das Vorstandsmitglied ungünstig ist.

1. Vergleich mit anderen Normen

Allerdings erinnert diese Exkulpationsmöglichkeit des Vorstands an die Exkulpation gem. § 831 Abs. 1 S. 2 BGB. Danach kann sich der Geschäftsherr bezüglich der Haftung gegenüber Dritten hinsichtlich der Pflichtverletzung entlasten. Entscheidend ist jedoch. dass es sich dabei – anders als der aktienrechtlichen Innenhaftung – um eine Außenhaftung handelt, die ihrerseits den Dritten schützen soll.

§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG behandelt den Fall der Innenhaftung und schützt damit die Gesellschaft vor dessen Organ, dem Vorstand; dieser ist der Leidtragende. Es stellt sich die Frage, wer schützenswerter ist?

Sollte dem Vorstand der Beweis des Haftungsausschlusses nicht gelingen (nachdem in einem ersten Schritt die Aktiengesellschaft ihrer Darlegungs- und Beweislagt genügt hat), obliegt es ihm nachzuweisen, dass er auch bei der unternehmerischen Tätigkeit, die nicht unter § 93 Abs. 1 S. 2 AktG fällt, seiner Sorgfalt genügt hat und dass ihn kein Verschulden trifft oder dass der Schaden auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten wäre. Demzufolge ist das Vorstandsmitglied wieder in der Pflicht.

Auch diese Anforderungen gehen weit über die hinaus, die im allgemeinen Schuldrecht einem in Anspruch genommenen Schuldner auferlegt werden. Denn nach der einschlägigen Norm des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB muss der Schuldner lediglich darlegen, dass ihn kein Verschulden trifft.

2. Spannungsverhältnis

Damit stehen § 93 Abs. 1 S. 2 AktG und § 93 Abs. 2 S. 2 AktG in einem Spannungsverhältnis. Denn einerseits wird die unternehmerische Tätigkeit des Vorstandsmitglieds und damit dieser geschützt. Auf der anderen Seite wird dieser Schutz aber durch die dem Vorstand im Prozess auferlegten Darlegungs- und Beweispflichten eingeschränkt. Es besteht wegen der Schwierigkeit des Entlastungsbeweises die Gefahr, dass der Schutz des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG in der Prozesspraxis faktisch ins Leere läuft und die Norm ausgehöhlt wird.

3. Non-liquet-Urteil

Im Endeffekt trifft zudem das Vorstandsmitglied trotz der im § 93 Abs. 1 S.2 AktG verankerten Business Judgement Rule und dem Grundsatz, dass der Anspruchsteller, hier die Aktiengesellschaft, die Voraussetzungen einer Haftung darlegen und beweisen muss, das Risiko eines non-liquet-Urteils. Der Vorstand ist einem enormen Haftungsrisiko ausgesetzt. Außerdem muss man fragen, ob der Aktiengesellschaft nicht ausreichende andere Möglichkeiten zum Schutz vor einem Vorstandsmitglied wie z.B. Überwachung durch den Aufsichtsrat oder personalbedingte Konsequenzen, z. B. wie eine Kündigung, zur Verfügung stehen.

4. Prozesspraxis

Es besteht für beide Seiten ein erhebliches Prozessrisiko, da wie beispielhaft gezeigt, Uneinigkeiten und Unsicherheiten bezüglich der Umsetzung der festgelegten Kriterien in der Praxis herrschen, die über das normale Risikomaß hinausgehen.


Hartmut Göddecke
Rechtsanwalt | Fachanwalt für Steuerrecht
Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht

https://www.kapital-rechtinfo.de

14. Mai 2012

Autor dieses Rechtstipps

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